Erzählend überleben

geschrieben von Heinrich Fink

5. September 2013

Vor zehn Jahren starb der Schriftsteller Jurek Becker

März-April 2007

Jurek Becker ist viel zu früh, mit 60 Jahren, am 14. März 1997 gestorben. Geboren ist er in Lodz, sein genaues Geburtsdatum hat er nie erfahren. Sein Vater, Max Becker, hat ihn um einige Jahre älter gemacht, um ihn vor der Deportation aus dem Ghetto zu schützen. Er wurde aber ohne seine Eltern ins KZ Ravensbrück, danach nach Sachsenhausen deportiert. Sein Vater überlebte Auschwitz. Seine Mutter und 20 weitere Familienangehörige wurden umgebracht. Nach der Befreiung gelang es dem Vater durch eine amerikanische Suchaktion, den Sohn zu finden. Die Wiederbegegnung mit seinem Vater, der ihn in seine Arme schloss, nannte Jurek Becker »seine Geburt in die Menschen«. An das, was er bis zu diesem Zeitpunkt erlebt hatte, besaß er kaum Erinnerungen, wollte auch keine haben. Das war vergessen oder verdrängt. »Mein Vater hat nach dem Krieg relativ wenig getan, um Erinnerung in mir wach zu halten, ich würde sogar sagen, er hat viel getan, um die Erinnerung zu tilgen, zu löschen. Wenn ich mich recht erinnere, hat in unseren Gesprächen die damals unmittelbare Vergangenheit nie eine Rolle gespielt, im Gegenteil! Er hat meine Fragen abgewimmelt – wahrscheinlich weil er betroffener davon war als ich.«

Trotzdem schrieb Jurek Becker mit seinem Buch »Jakob der Lügner« ein höchst authentisches Werk über das Leben im Ghetto. »Ich habe Geschichten über Ghettos geschrieben, als wäre ich ein Fachmann. Vielleicht habe ich gedacht, wenn ich nur lange genug schreibe, werden die Erinnerungen schon kommen. Vielleicht habe ich irgendwann auch angefangen, meine Erfindungen für Erinnerungen zu halten.«

Jurek Beckers zweite Kindheit begann in der Lippehner Straße 5 in Berlin, in der sowjetisch besetzten Zone. Diese politische Umgebung wählte der Vater, weil hier, wie er wusste, Antifaschisten an die Macht gekommen waren, die sich gegen Antisemitismus wehren würden. Sehr früh lernte Jurek Becker durch seine polnische Sprache Fremdheit, Ausgrenzung und Verachtung kennen. Er reagierte darauf mit dem Streben, möglichst sehr gut in Deutsch und allen anderen Schulfächern zu sein, um die Achtung der Mitschüler zu gewinnen. Schon als Kind empfand er das Erkennen von Zusammenhängen als das größte Glück. Der Wunsch, nach dem Abitur Philosophie zu studieren, fand bei seinem Vater wenig Sympathie. Wegen politischer Widersprüche mit seinen Genossen gab Jurek Becker das Studium dann auch auf und begann zu schreiben.

»Liebling Kreuzberg« machte ihn bei einem breiten Publikum bekannt. Die Sendung war wohl die intelligenteste und unterhaltsamste Serie im deutschen Fernsehen. Kein westdeutscher Autor hätte die »Dutzendgeschichten« (so Manfred Krug) um den Westberliner Rechtsanwalt Robert Liebling genauer beschreiben und besser erfinden können als Jurek Becker. Denn inzwischen war er kein DDR-Bürger mehr. Ideologische Widersprüche mit der SED, deren Mitglied er gewesen war, und die Reaktionen auf den von ihm mit getragenen Protest gegen die Ausbürgerung Biermanns und den Ausschluss Reiner Kunzes aus dem Schriftstellerverband hatten ihm keine andere Möglichkeit mehr gelassen, als in den Westen überzusiedeln.

Jurek Becker wehrte sich ständig gegen politische Engstirnigkeit. »Wenn Politiker aufhören politisch zu denken, sollten sie aufhören, Politik zu machen«. Da machte er keinen Unterschied zwischen Ost und West. Wie kaum ein anderer war er in der Lage, Menschen und Zustände aus beiden deutschen Staaten wahrhaftig zu beschreiben. Vielleicht stammt seine souveräne Befähigung dazu gerade aus dem Umstand, dass er aufgrund seiner Kindheitserfahrung ein übersteigertes Bedürfnis nach Verwurzeltsein nicht ausgebildet hatte. Um so fremder musste ihm dann die »neue deutsche Einheit« erscheinen.

Auf die Frage, ob er Jude sei, betonte er immer wieder: »Meine Eltern waren Juden.« Ihm wird nachgesagt, er habe keinen Kontakt zur Synagoge gehabt. Das stimmt, doch dem jüdischen Leben in Ostberlin fühlte er sich verbunden. Unvergessen bleiben für viele seine Lesungen und die intensiven Gespräche im Jüdischen Gemeindehaus in der Oranienburger Straße, etwa über »Jalkob der Lügner« oder »Jüdisch sein«. Und nicht nur diese. Jedes Buch von Jurek Becker hat sicher nicht nur mir neue Räume der Erkenntnis eröffnet.