Fragwürdige Lesart

geschrieben von Tanja Girod

5. September 2013

Hollywood verfilmt Bernhard Schlinks Roman »Der Vorleser«

März-April 2009

Der Vorleser (The Reader)

Drama – USA/Deutschland 2008

FSK: Freigegeben ab 12 Jahren – 124 Min. – Verleih: Senator

In meinem Schrank steht ein Buch von Bernhard Schlink. Kein Roman, sondern ein Lehrbuch; Staatsorganisationsrecht II. Dieses Buch ist ein außergewöhnliches intellektuelles Vergnügen, geschrieben von einem herausragenden Didaktiker. Professor Schlink war mein Lieblingsprofessor.

Im Jahr 1999 veröffentlichte er einen Roman, den er nach den Vorlesungen für die Mütter seiner Studentinnen signierte: »Der Vorleser«. Wenn dieser auch, vor allem in den USA, millionenfach verkauft wurde: Bernhard Schlink wird wohl als schreibender Rechtswissenschaftler in die Geschichte eingehen und nicht als juristisch gebildeter Dichter.

Dennoch: ein mutiger Schritt, sich als anerkannter Jurist von der Literaturkritik in Frage stellen zu lassen. Beim Lesen hatte ich das Gefühl, dass der Autor sehr wohl wusste, was er tat. Denn in diesem ambivalenten Buch verdichtete Schlink seine Erfahrung als Nachkriegsjurist und »Alt-68er«. Der Roman erinnert an eine juristische Fallstudie und Kleist`sche Reportagetechniken. Plot und Figuren-ensemble erschienen mir geradezu kühn.

Erzählt wird von der sexuellen Initiation eines 15 jährigen Gymnasiasten durch eine Ex-KZ-Aufseherin. Sie begegnen sich in einer Straßenbahn. Die große Liebe und das Banale sind immer so nah. Zufällig treffen beide sich Jahre später im Gerichtssaal wieder. Er kann nicht zu ihr stehen und lässt zu, dass sie stellvertretend für raffiniertere Täter verurteilt wird. Am Ende ist sie tot, eine kulturell geläuterte Ex-Analphabetin, er für den Rest seines Lebens liebesunfähig, schuldig.

Im Buch liegt der Schwerpunkt auf dem männlichen Protagonisten und seinem Leiden. Schlink spielt das Drama einer ganzen Generation an einem besonders zugespitzten Fall durch. Diese Nachkriegsgeneration wird permanent geplagt von schlechtem Gewissen, einer Art kultureller Erbschuld. Hanna Schmitz, Geliebte und Täterin, erscheint als Deutsche, wie sie im Buche steht: Arisch, blond, etwas herb, pflichtbewusst, reinlich, verantwortungsbewusst und mit einem Hang zur Uniform. Das einzige, was ihr fehlt – und das unterscheidet sie von den anderen SS-Aufseherinnen – ist ein gewisses Maß an Dreistigkeit und Corpsgeist. Sie ist eine Außenseiterin. Deshalb kommen die anderen auch mit milderen Strafen davon.

In einer Kritik in der SZ wurde der Roman als kulturelle Pornographie diffamiert. Ich fand die Rückblenden und das Ressentiment eines »Alt-68ers« auf seine erste Beziehung im steifen Deutschland der 50er Jahre nicht so peinlich, dass die Bezeichnung »Naziporno« gerechtfertigt gewesen wäre. Anders der Film! Meiner Meinung nach wurde das Buch durch Filmemacher Daldry, den Drehbuchautor David Hare und durch die amerikanische Öffentlichkeit falsch rezipiert. Denn das Buch handelt von der Frage nach persönlicher Schuld und sexueller Verstrickung vor dem Hintergrund der deutschen Zeitgeschichte; Aufwachen und doch nicht Aufwachen wollen; Entgrenzung und doch gehemmt sein. Der Film dagegen handelt von Kate Winslet als bemitleidenswerter Täterin. Er bietet schönstes amerikanisches Ausstattungskino – die Farben, das Licht und das Set-Design entsprechen allen Erwartungen und bedienen jedes zitierfähige Klischee.

Oft ist in den USA der nackte Körper tabu, dafür wird die Darstellung äußerster Grausamkeiten toleriert. Hier wird plötzlich sehr viel nackte Haut gezeigt (ein Jurist würde sagen: geschlechtliche Beiwohnungen), dafür aber keine blutigen Naziverbrechen. In dieser Hinsicht wirkt der Film fast europäisch. Allerdings erscheint die sexuelle Initiation nicht so überzeugend, dass sie das Entstehen einer echten Neigung rechtfertigen würde. Und ist es legitim, den Zuschauer mit einer visuellen Projektion vom Sex mit der KZ-Aufseherin im Kopf nach Hause gehen zu lassen?

Die Bearbeitung von Daldry greift die Frage der Deutungshoheit auf. Jede bildliche Darstellung einer historischen Fiktion verändert unsere Rezeption der Zeitgeschichte. Wir haben andere, neue Bilder in unserem Kopf. Das eigentlich avantgardistische Moment des Films besteht darin, den Fokus nicht auf die Monster Eichmann, Goebbels oder von Schirach, also die üblichen hässlichen Deutschen zu richten, sondern auf eine »Mörderin«, die nur pflichtbewusst ist, sehr eigenwillig, Analphabetin und eine wunderschöne Frau. Sie entscheidet sich innerhalb ihrer Umstände nicht für den Persilschein wie die anderen pflichtbewussten Deutschen in dieser Zeit – sondern für Gefängnis, Freitod und die Rolle des Sündenbocks.

Der Film hat ein im Buch nicht enthaltenes, bitteres und sehr unversöhnliches Ende. Die Überlebende verweigert die Absolution und die persönliche Wiedergutmachung der KZ-Aufseherin. Hanna Schmitz hat sich umsonst im Gerichtssaal geopfert und sinnlos lebenslang gesessen.

Für mich war der Film eine Enttäuschung. Zu viel Mainstream, das Niveau der Romanvorlage wurde deutlich verfehlt. Die mediale Verwurstung von Nazistoffen, die Oskar-, Bären- oder sonstig preisverdächtig sind, hat mich bereits bei der Weißen Rose und dem Stauffenbergfilm der Scientologynase Tom Cruise geärgert. Don’t fraternize!