Gegen den Gleichschritt

geschrieben von Raimund Gaebelein

5. September 2013

Von »entarteter Musik« zum Widerstand

Mai-Juni 2012

Wolfgang Beyer, Monica Ladurner, Im Swing gegen den Gleichschritt. Die Jugend, der Jazz und die Nazis, 241 Seiten, 21,90 Euro, Residenz Verlag St. Pölten/Salzburg.

Das Buch enthält ein ausgezeichnetes Glossar, kommentierte Auswahlbiographie, gutes Personenregister

Uwe Storjohann, Hamburger Swingkid, der zu diesem Buch beigetragen hat, wird am Sonntag, dem 22. Juli zum antifaschistischen Jugendworkcamp in Heideruh kommen.

Aus Liebe zur Musik entwickelten die Swingkids in Hamburg, Frankfurt/Main, Berlin, Düsseldorf, die Schlurfs in Wien, die Potkapi (Haubentaucher) in Prag, die Zazous in Paris, Bordeaux, Rouen und Dijon individuelle Ausdruckformen gegen den Marschtritt. Sie wollten lieber tanzen, als marschieren. Wolfgang Beyer und Monica Ladurner sind dieser Subkultur unter Naziherrschaft und deutscher Besatzung nachgegangen. In Hamburg gingen Gymnasiasten und junge Kaufleute in Nadelstreifenanzug, Bowlerhut mit aufgerolltem Regenschirm zu Planten und Blomen, zum Curio-Haus, zum Alsterpavillon, um Musik von Louis Armstrong, Benny Goodman oder Duke Ellington zu hören. Sie gerieten bisweilen mit HJ-Streifen aneinander, denen die Haare zu lang, die Kreppsohlen zu laut, die Musik zu englisch waren. Im besetzten Wien waren die Schlurfs eher Arbeiter oder Lehrlinge, ihre Musik, Haartracht und Kleidung entsprachen amerikanischen oder englischen Vorbildern. Ihre Mädchen waren geschminkt und lackierten sich die Fingernägel, was immer wieder zu Pöbeleien führte. Soweit möglich versuchten sie, in Tanzschulen ihre Musik zu hören und zu tanzen. Bis Ende 1941 verstärkten die Behörden die Repressionen gegen sogenannte »entartete Musik«. Swing war populär, hatte Einzug gehalten in die europäischen Großstädte. Idol der Pariser Zazous war Django Reinhardt, der unter deutscher Besatzung einen gewissen Schutz vor Verfolgungen durch die französischen Behörden genoss. Natürlich mussten die Musikstücke abgewandelte Namen bekommen, aus dem beliebten Tiger Rag wurde Tigerzorn, aus dem St. Louis Blues das Elend von St. Louis. Während der Olympiade 1936 in Berlin konnte die Jugend auf der Treppe Originalswing verfolgen. Um den Tiger Rag oder den St. Louis Blues zu hören, bauten sich handwerklich Geschickte eigene tragbare Grammophone, auf denen sie im Park mit Freunden Schellackplatten hörten, welche sie sich über Soldaten aus dem besetzten Paris oder Kopenhagen besorgten.

Als es mit den anfänglichen Kriegserfolgen Ende 1941 zu Ende ging, wandelte sich die zunächst individuelle Unterdrückung persönlicher Lebensstile zu einer systematischen Verfolgung. Verstärkt fanden Hausdurchsuchungen, Razzien in Vergnügungsstätten und Parks statt, Himmler beauftragte Reinhardt Heydrich, Jugendliche in KZ oder Arbeitserziehungslager zu überführen. Die meisten Jugendlichen waren nicht politisch, sie wollten einfach etwas vom Leben gehabt haben, während um sie herum die Bomben fielen und die Todesrate unter den Soldaten stieg. Der verstärkte Druck trieb sie dazu, sich mit anderen Verfolgten zu solidarisieren. Coco Schumanns Cousin Heinz Rothholz und seine Freunde gehörten in Berlin zur Widerstandsgruppe um Herbert Baum, die nach einem Brandanschlag auf Goebbels hetzerische Ausstellung »Das Sowjetparadies« verhaftet wurde und unter dem Fallbeil starb. Coco Schumann kam ins KZ Theresienstadt. Dort war er mit dem Prager Tangostar Fritz Weiss bei den »Ghetto-Swingers« aus dem Nazi-Propagandafilm »Der Führer schenkt den Juden eine Stadt«. Coco Schumann überlebte Auschwitz-Birkenau, Fritz Weiss starb in der Gaskammer. Hamburger Swing-Fans suchten den Kontakt zur Widerstandsgruppe »Weiße Rose« und verfassten Flugblätter. Günter Discher, der lange Jahre Jazzplatten aus dem besetzten Ausland an Gastwirte in St. Pauli verkaufte, wurde 1943 nach drei Monaten Gestapo-Verhör in Ketten ins Jugend-KZ Moringen gebracht.