Karlsruhe bricht die Verfassung

geschrieben von Ulrich Sander

5. September 2013

Der Militäreinsatz im Inneren ist durch das Grundgesetz nicht
gedeckt

Sept.-Okt. 2012

Das Bundesverfassungsgericht hat in Entscheidung Nr. 63/2012 vom 3. Juli 2012 den bewaffneten Einsatz der Bundeswehr im Landesinneren für verfassungsgemäß erklärt, und zwar mit wenigen schwammigen Auflagen. Es überschritt damit seine Kompetenzen, denn eine Verfassungsänderung – und dies ist de facto eine – erfordert nach Artikel 79 GG ein den Text des Grundgesetzes ausdrücklich änderndes Gesetz, das der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Deutschen Bundestages und zwei Dritteln der Stimmen des Bundesrates bedarf. Und es bricht die Verfassung, in der es in Artikel 87a ausdrücklich heißt: »Außer zur Verteidigung dürfen die Streitkräfte nur eingesetzt werden, soweit dieses Grundgesetz es ausdrücklich zulässt.«

Was lässt es neben der Landesverteidigung zu? Den Einsatz im Innern zur Bekämpfung »militärisch bewaffneter Aufständischer« im Falle der »drohenden Gefahr für den Bestand« oder »Grundordnung« des Landes (Artikel 87a). Ferner die Unterstützung der Polizeikräfte durch die Streitkräfte bei »Naturkatastrophe« und »besonders schwerem Unglücksfall« (Artikel 35). Was lässt es überhaupt nicht zu? Die Vorbereitung und Führung eines Angriffskrieges (Artikel 26). Das BVerfG darf die Verfassung interpretieren, aber nicht neu schreiben.

Heribert Prantl schrieb bereits vor drei Jahren über die jetzige Praxis der Bundeswehr: »Nichts von dem, was die Bundeswehr heute macht, ist dort (im Grundgesetz) zu finden. Dort ist sie immer noch Verteidigungsarmee. Schleichend und ohne Verfassungsänderung ist die Bundeswehr in eine Kriseninterventionsarmee verwandelt worden.«

Das Grundgesetz aber muss Leitfaden sein für jeden Staatsbürger – auch für den in Uniform. Unser Respekt hat dem Grundgesetz zu gelten, nicht aber diesem Urteil des Karlsruher Gerichts.

Es regt sich wenig Protest. Nur einer der 16 Verfassungsrichter, der Richter Reinhard Gaier, hat laut Urteilsverkündung vom 17. August ein Minderheitenvotum abgegeben, das sich sehen lassen kann. Er verurteilte, dass das strikte Verbot, zu Terrorismusflugzeugen erklärte Zivilflugzeuge abzuschießen, aufgeweicht wurde. Zum Demonstrationsrecht schreibt Gaier: »Im Schatten eines Arsenals militärischer Waffen kann freie Meinungsäußerung schwerlich gedeihen.« Unter Berücksichtigung der geschichtlichen Erfahrungen hat bei Beschlussfassung über die Notstandsgesetze 1968 niemand gewagt, soweit zu gehen, wie jetzt das BVerfG. So lässt sich Gaiers Stellungnahme zusammenfassen. Es scheint angesagt, dass sich wieder eine APO regt, möglichst so wie 1968.