Neue Kriegsanleitung

geschrieben von Thomas Willms

5. September 2013

Das »Counterinsurgency Field Manual« von U.S. Army und Marine
Corps

Sept.-Okt. 2010

The U.S. Army/Marine Corps Counterinsurgency Field Manual, 472 Seiten, ca. 10 $, erhältlich im Online-Buchhandel

Große mediale Aufregung herrschte im Juli über die »wikileaks«-Veröffentlichung von 92.000 Dokumenten des US-Militärs zum Afghanistan-Krieg, versehen mit dem Stempel »Geheim«. Ignoriert wurde, dass von ranghöheren Autoren verfasste, analysierende und zusammenfassende Texte zum selben Thema seit langem in der Zeitschrift »Military Review« veröffentlicht werden und dass die »Doktrin«, also die verbindliche Handlungsanleitung, ebenfalls öffentlich zugänglich ist.

Das »Counterinsurgency Field Manual«, zu Deutsch »Feldhandbuch der Aufstandsbekämpfung« stellt einen Wendepunkt im strategischen und taktischen Denken der führenden Militärmacht dar. Es ist ein Gemeinschaftswerk der Führungsstäbe der US Army und des Marine Corps in Verbindung mit diversen dem Militär nahe stehenden Einrichtungen, jedoch nicht des Verteidigungsministeriums oder anderer Stellen der Bundesregierung. Es wurde zum Ende der Regierung Bush unter der Leitung des Generals David Petraeus – zugleich studierter Historiker – entwickelt, damals Kommandeur im Irak, seit kurzem in Afghanistan. Petraeus gilt, das sei gesagt um die Bedeutung des folgenden besser würdigen zu können, in den USA als Architekt des Sieges über Saddam Hussein und persönlich als beinharter Kriegsheld.

Zweck des Manuals ist es, Prinzipien herauszuarbeiten mit deren Hilfe die USA und ihre Verbündeten instabile Regionen und Staaten beherrschen und so vorbereiten können, dass auch ohne US-Streitkräfte ein genehmes Staatsgebilde entsteht und sich halten kann. Von diesem grundsätzlich imperialistischem Anspruch einmal abgesehen, bricht der Text aber mit den Erwartungen jedes Lesers, seien es Politiker, Militärs oder Friedensbewegte.

Die Überraschungen beginnen damit, dass die US-Militär-Führung, bzw. die Teile, die Petraeus und der mittlerweile abservierte General McChrystal repräsentieren, bei weitem durchdachter, weitsichtiger, geschmeidiger und gewaltärmer argumentiert als die Obama- oder gar die Bush-Administration, von deren komplettem Versagen sie im übrigen ausgeht.

In klarem Englisch, mit vielen historischen Beispielen und einer an Paradoxien reichen Argumentation wird herausgearbeitet, warum die herkömmlichen militärischen Herangehensweisen in Situationen besetzter »gescheiterter Staaten« nicht funktionieren und dringend neue her müssen. Der Begriff des »Sieges« sei beispielsweise fragwürdig und variabel geworden. Das Scheitern wird immer für möglich gehalten, der Anpassung und Lernfähigkeit höchste Priorität eingeräumt. Mit Bezug auf Mao Zedong (!) wird den politischen Aktionen der Vorzug vor militärischen Operationen eingeräumt.

Von den Kommandeuren verlangt das Manual, ihren Fokus von den bewaffneten Gegnern auf die Bevölkerung zu verlagern, oder um mit Mao zu sprechen, sich weniger mit den »Fischen« zu beschäftigen als dem »Wasser« in dem diese schwimmen. Zu diesem Zweck bedürfe es zeitweilig sehr vieler Soldaten, die in ständigem Kontakt mit der Zivilbevölkerung stehen sollten. Der Einsatz schwerer Waffen sei dabei sinnlos oder kontraproduktiv. Wirkliche Sicherheit entstehe eben gerade durch Verzicht auf die Sicherheit gepanzerter Fahrzeuge und Stützpunkte. Viele eigene Tote seien demzufolge in der Anfangszeit in Kauf zu nehmen. Der körperlichen Unversehrtheit der Bevölkerung wird Priorität eingeräumt, wohlgemerkt nicht aus humanistischen, sondern aus kaltschnäuzig militärischen Erwägungen. Gewalt gegen Zivilisten – die berüchtigten »Kollateralschäden« – oder deren Entehrung werden als die eigentliche Quelle der Macht der Aufständischen beschrieben.

Dieses Konzept ist nicht weniger als das exakte Gegenteil dessen, was die Army ihren Offizieren und Soldaten jahrzehntelang antrainiert hat.

Ausführlich beschäftigt sich das Manual mit interkulturellen Fragen, Aspekten der Kommunikation mit Zivilisten, der Bündnispolitik mit einheimischen gesellschaftlichen Gruppen, dem Aufbau örtlicher Sicherheitskräfte, der Integration von zivilen Maßnahmen und dem Verhältnis von kurzfristigen und langfristigen Zielen.

Das »Killen« der Gegner wird selbstverständlich und offenherzig als Option aufrechterhalten, aber nur als eine unter vielen, die dem Gesamtzweck nicht entgegenstehen darf. Hier liegt auch der tiefere Grund für die aggressiven Reaktionen des US-Militärs auf das deutsche Kundus-Massaker oder auch auf das Vorgehen der israelischen Armee, deren Führung von Seiten McChrystals unmittelbar für den Tod amerikanischer Soldaten verantwortlich gemacht wurde.