Nicht nur symbolisch

geschrieben von Hannes Püschel

5. September 2013

Die Totalitarismusdoktrin soll die europäische Erinnerungspolitik
bestimmen

Nov.-Dez. 2011

Als 1989-91 mit dem Ende des »real existierenden Sozialismus« in Europa der Kalte Krieg endete, kam für kurze Zeit das Schlagwort vom »Ende der Geschichte« auf. Tatsächlich begann jedoch eine Zeit, in der die Erinnerung an historische Ereignisse eine bis heute anhaltende Konjunktur erlebte. Statt eines Schlussstriches unter die Geschichte des 2. Weltkrieges war zu erleben, wie der Holocaust zum negativen Gründungsmythos eines neuen vereinten Europas werden sollte.

Diese »Europäisierung des Holocausts« stieß jedoch auf Widerstand in den mittelosteuropäischen Staaten, die gerade den Realsozialismus überwunden, und vor allem in den baltischen Staaten, die ihre Unabhängigkeit von der UdSSR erklärt hatten. Die meisten dieser Länder haben keine eigenstaatliche Geschichte in der Neuzeit und erlangten ihre Unabhängigkeit, die nur bis zum 2. Weltkrieg andauern sollte, erst nach dem 1. Weltkrieg. Und auch in jenen Ländern, die nach 1945 als unabhängige Staaten wiederaufgebaut werden sollten, führte die starke sowjetische Einflussnahme dazu, dass diese Ära heute häufig als Zeit der Fremdherrschaft und Besatzung wahrgenommen wird.

Deshalb bezogen und beziehen sich viele der politischen Strömungen, die seit 1989 in Mittelosteuropa die Gesellschaft prägen auf die Eigenstaatlichkeit zwischen den Weltkriegen. Doch der positive Bezug auf diese kurze Unabhängigkeit kollidiert mit der Erinnerung an den Holocaust aus zwei Gründen: Zum einen rekrutierten sich aus den nationalistischen Bewegungen der Zwischenkriegszeit häufig Kollaborateure der Deutschen, die sich in Zusammenarbeit mit Wehrmacht und SS, oft genug aber auch auf eigene Faust an der Vernichtung der osteuropäischen Juden beteiligten. Zum anderen wird der Vormarsch der Roten Armee, der am 27. Januar 1945 zur Befreiung von Auschwitz führte, als Beginn einer erneuten Besatzung gesehen, die im Baltikum zur Annexion, in den anderen Ländern zur Oktroyierung des sozialistischen Systems führen sollte.

Die politische Antwort auf dieses Problem besteht in der umstandslosen Gleichsetzung von sowjetischer Expansionspolitik und stalinistischer Repression mit der systematischen Vernichtung der europäischen Juden, wonach die Bevölkerung der jeweiligen Länder sowjetischerseits einem Verfolgungs- und Vernichtungsdruck ausgesetzt gewesen wäre, der dem Leiden der Juden unter der deutschen Besatzung nicht nachgestanden hätte.

Wie sehr dieses Standardideologem der nationalistischen Gedächtniskulturen Mittelosteuropas in Konflikt mit »westeuropäischen Standards« steht, und welche Probleme dies für eine Integration der mittelosteuropäischen Staaten in die EU bedeutet, dürfte vielen Akteuren dort erst klar geworden sein, als die lettische Außenministerin Sandra Kalniete bei der Leipziger Buchmesse 2004 einen Skandal auslöste, als sie erklärte, dass »beide totalitären Regime – Nazismus und Kommunismus – gleich kriminell waren.«

In Reaktion auf diese Kluft zwischen west- und osteuropäischen Erinnerungskulturen bemühen sich seit einigen Jahren v.a. osteuropäische Politiker und Intellektuelle um Vernetzung und Austausch, um gemeinsam die »Anerkennung der osteuropäischen Gewalterfahrung« in Form der Akzeptanz der Totalitarismusdoktrin als Bestandteil europäischer Erinnerungspolitik durchzusetzen. So fand im Juni 2008, unterstützt von der tschechischen Regierung, in Prag die Konferenz European Conscience and Communism (Europäisches Bewusstsein/Gewissen und der Kommunismus) statt, auf der die gleichnamige Erklärung, kurz Prague Declaration, verabschiedet wurde. Diese fordert, die Gleichsetzung von Nationalsozialismus und Kommunismus zur Grundlage europäischer Geschichtspolitik zu machen und legt einen detaillierten Maßnahmenkatalog dafür vor.

Ihre Inhalte wurden u.a. mit der European Parliament Resolution of 2 April 2009 on European Conscience and Totalitarianism und der Einführung des 23. Augusts als antitotalitären europäischen Gedenktag zur Basis europäischer Geschichtspolitik erklärt und haben seither Eingang in eine Vielzahl von EU-Programmen und Maßnahmen gefunden.

Die Annahme der Totalitarismus-Doktrin als Interpretationsrahmen für die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts durch die EU wird nicht nur symbolische Auswirkungen haben. Da die EU in steigendem Maße u.a. »harmonisierend« Einfluss auf Bildungsinhalte nimmt und sich finanziell fördernd auf dem Gebiet der Gedenkstättenarbeit engagiert, verfügt sie über effektive Möglichkeiten, die Verbindlichkeit eines antitotalitären Geschichtsbildes durchzusetzen.