Plattes Jiddisch

geschrieben von Thomas Willms

5. September 2013

Über das »Plattdeutsche Buch des Jahres« und über eine
verlorene Sprache

Mai-Juni 2012

Plattdeutsches Buch des Jahres 2011: Heinrich Buchholz: »Na, Lütten?« Briefe aus dem Konzentrationslager und Zuchthaus 1933-1937, Nieder- und Hochdeutsch, Donat Verlag Bremen, 192 Seiten, 16,80 EUR

Gertrud Reershemius: Die Sprache der Auricher Juden, Zur Rekonstruktion westjiddischer Sprachreste in Ostfriesland, 247 Seiten, 68 EUR

Dürfen Briefe aus KZ und Zuchthaus lustig sein? Diese Frage stellt sich unweigerlich, wenn man die in Plattdeutsch verfassten Briefe des Bremer Kommunisten Heinrich Buchholz liest, die er zwischen 1933 und 1937 seiner Frau und seiner Tochter schrieb. Buchholz war, wie so viele andere Kommunisten auch, bereits früh in die Fänge der Gestapo geraten, im frühen KZ Bremen-Mißler gefoltert und anschließend wegen Hochverrats zu einer Zuchthausstrafe verurteilt worden. In seinen Briefen zeigt er sich als selbstsicherer Mann, selbstironisch, sarkastisch, fantasievoll, mehr um das Wohl der Familie bemüht als um das eigene. Von Beruf Tischler, hatte er viele Jahre in der kommunistischen Kinder- und Jugendarbeit sowie in der Theaterbewegung gewirkt. Im Gefängnis fehlte ihm die körperliche Betätigung ebenso wie die geistige Auseinandersetzung. Es blieb ihm allein die Möglichkeit, alle zwei Monate einen Brief zu schreiben.

Sein humoristischer Grundton war Mittel zur Überwindung der Zensur , aber auch für den seelischen Selbstschutz. Er wählte als Sprache das Plattdeutsche, stellte damit eine besondere Nähe zu seiner Frau her und distanzierte sich gleichzeitig vom Gefängnissystem, das auf den Briefformularen als Kommandosprache daherkam (»Es dürfen nur die Linien beschrieben werden!«) Das Hochdeutsche war die Sprache der Amtsstuben, Kanzeln und Katheder, aber auch die der Partei. Das Plattdeutsche war die Sprache der Flure vor den Amtsstuben, der Schul- und Gefängnishöfe. Nun waren und sind die Plattdeutschsprechenden in der Regel Analphabeten in ihrer Umgangssprache, was die Schriftform angeht . Man kann sich vorstellen, dass Buchholz diese Erschwernisse in der Gefängnisöde als Möglichkeit für geistige Klimmzüge freudig auf sich nahm. Tatsächlich hielt seine Frau Platt eigentlich für eine eher niedere Angelegenheit. Der Tochter, die den Band herausgegeben hat, schrieb der Vater auch gleich in Hochdeutsch.

Der besondere Glanz der Texte im Original, auch im Vergleich mit den hochdeutschen Übersetzungen in dieser Edition, lässt einen über die alte Frage grübeln, ob gewisse Sprachen gewisse Wahrheiten besser darstellen können als andere. Der Klassencharakter des Plattdeutschen, die Sprache der Torfstecher, Knechte und Mägde, verleiht z.B. einem Ausdruck wie »de Tied sluddert und slart immer so sinnig un sutje hen« (die Zeit schleicht und schlurrt immer so sinnig und langsam dahin) eine Tiefe, den die hochdeutsche Übersetzung nicht hat. Es ist die unerschütterliche Geduld des einfachen Landvolkes und ihre Gewissheit, dass auch der längste Acker irgendwann abgearbeitet sein wird, den Buchholz ,ob bewusst oder nicht, beschwört. Für seine Familie und sich selbst: »de Tokunft hört us doch, mag dor ok kamen wat `r will« (die Zukunft gehört uns doch, mag kommen was will).

Das Platt, das Buchholz nutzte, um sük sülmst över Water to holen, wie er wohl gesagt hätte, wird in Bremen heute faktisch nicht mehr gesprochen. Es wurde ein Opfer der Modernisierung, wie auch des damit einhergehenden niederdeutschen Selbsthasses.

Wer einmal eine richtig komplizierte Gemengelage von Sprachen, Dialekten und sozioökonomischer Dynamik und gleichzeitig eine kaum zu glaubende dramatische und traurige Geschichte von Zerstörung und Vergessen lesen möchte, sollte sich Gertrud Reershemius Studie über die Sprache der ostfriesischen Juden vornehmen. Dass diese tatsächlich eine eigenständige Sprache besaßen – eine »Varietät des Westjiddischen« ist so vollständig verlorengegangen, dass ein erster Hinweis auf sie erst wieder Ende der 80er Jahre von Johannes Diekhoff, Ostfrieslands personifiziertem Sprachgewissen, veröffentlicht wurde. (In diese Zeit fällt eine von der »Ostfriesischen Landschaft« veröffentlichte Reihe von liebevoller Literatur zum Thema Juden in Ostfriesland.) Erst vor wenigen Jahren gelang es Reershemius Grammatik und Wortschatz mit Hilfe weniger geretteter Dokumente und überlebender Sprecher zu rekonstruieren. Die Sprache der eher orthodoxen Auricher Juden (nicht die aller ostfriesischen Gemeinden, das wäre ja zu einfach) nahm beispielsweise die niederdeutschen Frageworte »wenner? (= wann?) oder wohen? (wohin?) auf oder auch »as« (= als) und »wel« (= jemand). Es entstand ein wunderliches Westjiddisch – für sich bereits eine Besonderheit im Vergleich zum dominanten Ostjiddisch – mit Sätzen wie »Do wullt ich fragen, wenner Schabbes is.« Diese Geschichte sollte über Linguistenkreise hinaus bekannt werden, ok wenn dat Book `n bietje dür is.