Protokoll einer Auslöschung

geschrieben von Regina Girod

5. September 2013

Wie Menschenrechte außer Kraft gesetzt werden

Sept.-Okt. 2008

Savvas Xiros:

Guantanamo auf griechisch. Zeitgenössische Folter im Rechtsstaat, Pahl-Rugenstein 2007, 13,90 Euro

Ein schreckliches Buch! Mit einem an die Hand gebundenen Stift geschrieben – weil die Finger fehlen. Von einem Mann der fast blind, so gut wie taub und durch schwere körperliche Schäden zum Pflegefall geworden, in einem unterirdischen Gefängnistrakt eine mehrmals lebenslängliche Haftstrafe verbüßt. Hier und heute, im Europa des 21. Jahrhunderts. In den Jahren 2004 bis 2007 entstanden, dokumentiert das Buch des griechischen »Terroristen« Savvas Xiros einen unerhörten Vorgang: Die Wiederaufrichtung eines Menschen, der durch Folter gebrochen wurde. Eine psychische Großtat, vollbracht aus eigener Kraft- durch Schreiben. Schreiben als qualvoller Akt der Selbstvergewisserung. Schreiben, um die Macht über die Erinnerungen zurückzugewinnen. Fragmentarische Texte, unerbittlich Zeugnis ablegend von menschlichen Abgründen und menschlicher Überlebenskraft. Wer bin ich? Was haben sie aus mir gemacht?

Am 29. Juni 2002 explodierte in der Hand von Savvas Xiros, Ikonenmaler, Mitglied der »Revolutionären Organisation 17. November«, kurz »17 N« genannt, eine Bombe, mit der er einen Anschlag auf das Büro einer Schifffahrtsgesellschaft im Hafen von Piräus verüben wollte. Der Anschlag war als Reaktion auf die gewaltsame Niederschlagung eines Streiks der griechischen Hafenarbeiter gedacht gewesen. 27 Jahre lang hatten Polizei und Geheimdienste in Griechenland vergeblich versucht, der Organisation »17 N« auf die Spur zu kommen, die, im Gefolge der Militärdiktatur entstanden, im Laufe der Jahre 19 Anschläge auf Personen und mehr als 80 Anschläge auf Gebäude verübt hatte. Sechs Millionen Euro Kopfgeld waren auf ihre Mitglieder ausgesetzt worden. Vergeblich.

Mit dem schwer verletzten Savvas Xiros in der Hand bot sich den griechischen Behörden die einmalige Chance, die Organisation 17 N aufzurollen. Die Ermittlungsbehörden reagierten sofort und verwandelten die Intensivstation des Athener Krankenhauses, in das man ihn gebracht hatte, in ein Verhörzentrum. Man brauchte den mit dem Tode Ringenden ja nicht einmal zu verhaften. Völlig hilf-und wehrlos, ohne juristischen Beistand, vollgepumpt mit Psychopharmaka, wurde er 65 Tage lang Prozeduren unterzogen, die seinen Widerstand brachen, seine Urteilsfähigkeit außer Kraft setzten und ihn zu einer willenlosen Marionette degradierten. »Wer jede ihm vom Gegenüber zugedachte Rolle annimmt, ohne die Fähigkeit zu zweifeln, zur Eigeninitiative, zum Nachdenken oder Denken, der ist suggestibel. Ein psychisch toter Mensch. Eine unpersönliche Persönlichkeit, ein unbeständiger Charakter, ein anderer Mensch.«, beschreibt er seinen Zustand später. »Dort, wo eine Werbung, eine Kampagne im Wahlkampf ansetzt, eine bewusstseinsverändernde Substanz oder Verheißung wirken, wo die Drogen zerfressen, die Wahnbilder der Abhängigen, gemeinsam oder einzeln eine andere, viel plastischere Realität im Innersten der Existenz, im Willen erzeugen, dort, im Kern der Existenz setzt auch die moderne Verhörmethodik an. Und dort steht der ihr Unterzogene tiefer als ein willenloses Tier, der keine Möglichkeit zur Kontrolle der Vorgänge hat, nichts in Frage stellen kann, kein Recht zur Verweigerung oder Wahl besitzt.« Ein Anwalt, der Savvas Xiros 45 Tage nach der Explosion im Krankenhaus sehen durfte, beschrieb seinen Zustand als den eines »fünfjährigen Kindes mit Down-Syndrom«.

Dennoch fanden die von ihm im Krankenhaus getätigten und später widerrufenen Aussagen im Prozess Verwendung. 15 mutmaßliche Angehörige der Organisation »17 N« wurden im Dezember 2003 zu Gefängnisstrafen von acht Jahren bis mehrmals lebenslänglich verurteilt. Zu der Verwertbarkeit der Aussagen von Savvas Xiros auf der Intensivstation hieß es in der Urteilsbegründung: »…angesichts des kritischen Zustandes und der Gefahr, dass er nicht überlebt, gelangten die Ermittlungsbehörden zu der Erkenntnis, dass man mit ihm kommunizieren müsse, um Indizien zu sichern, die zur Aushebung der Organisation führen würden.«

Ein wichtiges Buch. Es vermittelt nebenher die beklemmende Erkenntnis, dass ganz normale Krankenhausärzte und Schwestern, die gestern noch nichts Derartiges dachten, heute bereit sein können, Folter zu akzeptieren und sich sogar an ihr beteiligen! Zumindest dann, wenn das Opfer »Terrorist« ist. Die von den USA vorgelebte Maxime, zu Terroristen erklärten Personen die elementarsten Menschenrechte abzusprechen, trägt unheilvolle Früchte. Und das nicht nur in Griechenland.

Zu danken ist der in Athen lebenden Journalistin Heike Schrader für die deutsche Übersetzung des Buches und ihre ausführliche Einführung in die historischen und politischen Hintergründe des Falles Savvas Xiros und der »17 N«. Geplant sind nunmehr auch eine französische und eine englische Ausgabe. Savvas Xiros selbst kämpft inzwischen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte um dringend notwendige medizinische Behandlungen. Sein Gesundheitszustand hat sich durch die Haftbedingungen weiter verschlechtert. Auch sein Bruder, der ihn als Mithäftling pflegt und damit sein Überleben ermöglicht, ist unterdessen schwer erkrankt.