Weißer Fleck Wolfenbüttel

geschrieben von Hans Canjé

5. September 2013

Vor 1945: Zentrale Hinrichtungsstätte
Nach 1945: Haftanstalt auch für Opfer des Faschismus

Jan.-Feb. 2009

»Ungetrübter Himmel«

»(…) inzwischen wird auch über die Aufarbeitung der problematischen politischen Justiz nachgedacht, die unter maßgeblicher Beteiligung ehemaliger NS-Juristen in den Jahren 1949 bis 1968 schwerpunktmäßig gerade auch in Niedersachsen geübt worden ist (…) Wenn der demokratische Rechtsstaat Selbstkritik aushält, wird es auch zu diesem Thema eine Wanderausstellung und Informationen darüber geben, was in der Frühzeit der Bundesrepublik unter dem scheinbar ungetrübten Himmel des Rechtsstaats möglich war.

(Helmut Kramer, Forum Zeitgeschichte)

Gilt auch für Wolfenbüttel

»Exemplarisch für einen Aspekt der Verfolgungsgeschichte der NS-Terrorherrschaft oder der SED-Diktatur sind Orte, die Strukturen der Unterdrückungsapparate an besonderen Beispielen der Verfolgungsgeschichte anschaulich machen. Auf diese Weise werden sowohl das Schicksal der wichtigsten Opfergruppen als auch die Dimensionen der Verfolgungspolitik deutlich.«

(Gedenkstättenkonzeption zu: Kriterien der Förderung durch den Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien)

Die nun gültige Gedenkstättenkonzeption des Bundes präjudiziert im Schlussteil ihrer Einleitung nachdrücklich: »Die Geschichte der DDR und der SBZ ist Teil der gesamtdeutschen Geschichte und muß auch als solche erkennbar sein. Auch die westdeutschen Länder sind deshalb aufgefordert, ihren Teil zur Bewältigung dieser gesamtdeutschen Aufgabe zu leisten.«

Hans Coppí hat einen Blick auf die in der Konzeption sehr umfangreich dargelegten Richtlinien geworfen, wie die ostdeutschen Länder künftig ihren Beitrag zu dieser »gesamtdeutschen Aufgabe« per Order zu leisten haben. Ist der Verweis auf die »gesamtdeutsche Aufgabe« und die »gesamtdeutsche Geschichte« ernst gemeint, kann es natürlich nicht angehen, dabei die Geschichte der Alt-BRD respektive ihrer Gedenkstätten auszuklammern. Zumal es auch westwärts eigene Hausaufgaben zu erledigen, weiße Flecken zu tilgen gilt.

Ein markantes Beispiel: Die Justizvollzugsanstalt Wolfenbüttel in Niedersachsen. Dort wurden zwischen dem 23. September 1937 und dem 15. März 1945 mindestens 600 Menschen, darunter belgische, französische und deutsche Widerstandskämpfer, Juden, Sinti und Roma und andere »Volksschädlinge« durch den Strang oder die Guillotine hingerichtet. Gedenkstättenleiter Wilfried Knauer hält im Ergebnis neuer Recherchen sogar 2000 Opfer für möglich. Erst 1998 wurde hier eine Gedenkstätte eingerichtet, in der auch eine beachtenswerte Ausstellung über die faschistische Justiz und die skandalöse Durchsetzung der niedersächsischen Nachkriegsjustiz mit schwer belasteten Juristen des NS-Regimes zu sehen ist.

Im Zusammenhang mit seinen Recherchen sagte der Gedenkstättenleiter: »Wir wollen in Zukunft das gesamte Spektrum der Opfer der Justiz darstellen.« Das »gesamte Spektrum darstellen«, das verlangt zwingend, die Nachkriegsgeschichte der JVA nicht länger auszuklammern. Sie war in den Hochzeiten des Kalten Krieges Haftanstalt des Landes für schätzungsweise 100 Mitglieder der Freien Deutschen Jugend (FDJ) und der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD), die wegen ihres aktiven Widerstandes gegen die Wiedereingliederung belasteter Exponenten des Faschismus, der Aufrüstungs- oder der Ost- und Deutschlandpolitik der Regierung von politischen Sondergerichten verurteilt worden waren. Von 1951 bis 1968 sind, was heute fast vergessen ist, in der Alt-BRD aus den genannten Gründen insgesamt an die 10 000 Verurteilungen zu Gefängnis- und Zuchthausstrafen erfolgt »Besonders eifrig war, wie wir heute feststellen müssen, die niedersächsische Justiz, die bundesweit die Spitzenposition einnahm«, konstatierte im Februar 2005 der damalige Justizminister Pfeiffer.

Ein Verfolgter war August Baumgarte aus Hannover. Zwölf Jahre verbrachte er im faschistischen Deutschland in Gefängnissen und Lagern 1957 wurde er wegen Verstoßes gegen das KPD-Verbot von 1956 zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Absitzen musste er sie an einem Ort, von dem Pfeiffer sagte, »dass er gerade für diese politisch Engagierten und historisch informierten Gegner des Nationalsozialismus besonders schmerzlich gewesen sein muss: Unmittelbar gegenüber ihren Hafträumen und von den Fenstern aus gut sehen befand sich – noch im unveränderten Zustand – die ehemalige Hinrichtungsstätte der NS-Justiz.«

Gedenkstättenleiter Wilfried Knauer ist sich der Problematik der »doppelten Vergangenheit« wohl bewusst. Auf Nachfrage von »antifa« sagte er, dass in den Beiräten über die Einbeziehung der Opfer der politischen Justiz nach 1945 diskutiert worden ist. Das Thema könne nicht ausgelassen werden. Auch der Vorsitzende des »Forums Zeitgeschichte e. V.« der ehemalige Richter am Oberlandesgericht Braunschweig, Helmut Kramer, hält eine solche Erweiterung für geboten.

Auf der offiziellen Internetseite der JVA (www.justizvollzugsanstalt-wolfenbüttel.niedersachsen.de) spielt dieser Teil der Nachkriegsgeschichte allerdings nur insoweit eine Rolle, als Anstaltleiter Dieter Münzbrock dort, in den Schützengraben des Kalten Krieges verharrend, schreibt, dass die heutigen Ausstellungsräume »in den 50er Jahren noch als Hafträume für 30 Stalinisten dienten«…