Wer schreibt, handelt

geschrieben von Dirk Krüger

5. September 2013

Erinnerung an die Literaturwissenschaftlerin Silvia Schlenstedt (1931 –
2011)

Jan.-Feb. 2012

Mit der wesentlich erweiterten Neufassung des »Lexikons sozialistischer Literatur« wurde noch in der letzten Phase der DDR begonnen. Das Projekt schien für die Abwicklung prädestiniert. 1995 konnte es doch noch erscheinen: im Stuttgarter Metzler Verlag. Silvia Schlenstedt war Mitherausgeberin und hat zahlreiche Lemmata verfasst.

In Robert Cohens großartigem Roman »Exil der frechen Frauen«, in dem er neben Olga Benario und Maria Osten auch Ruth Rewald und ihr Buch »Vier spanische Jungen« umfangreich würdigt ist zu lesen: »Silvia Schlenstedt und Dirk Krüger würden zu den Gerechten gehören, an denen die Absicht der Nazis, selbst noch die Erinnerung an die Opfer aus dem Gedächtnis der Menschheit auszulöschen, scheiterte.«

Im vergangenen Jahr starb in Berlin die am 10. April 1931 in Wuppertal geborene, gleichermaßen national wie international renommierte Literaturwissenschaftlerin, Prof. Dr. Silvia Schlenstedt.

Sie war die Tochter des in der DDR sehr bekannten Kinder- und Jugendbuchautors und Friedrich-Wolf-Experten Walther Pollatschek. 1934, nach dem Machtantritt der Nazifaschisten, wurde sie mit der jüdischen Familie ins Exil getrieben, zunächst nach Spanien, dann nach Frankreich und später in die Schweiz.

1945 kehrte die Familie nach Deutschland zurück, zunächst nach Westdeutschland und 1950 in die DDR. Silvia Schlenstedt absolvierte dort ein Germanistikstudium, war danach wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Humboldt-Universität und wurde mit einer Arbeit über die »Svendborger Gedichte« von Bertolt Brecht promoviert. Sie habe dabei nach ihren eigenen Worten zu erfassen versucht, was überhaupt materialistische Literaturbetrachtung heißen könnte.

Als sie Volker Braun mit seinem Stück »Paul Bauch« – später »Die Kipper« – zu einer Lehrveranstaltung einlud, führte das zu heftigen Attacken auf Braun durch den Bezirkssekretär der SED Berlin. Da hatte sie genug. Sie wechselte an die Akademie der Wissenschaften der DDR.

Ab 1968 arbeitete sie dort am Zentralinstitut für Literaturgeschichte und habilitierte sich 1982 zur Professorin für neuere deutsche Literatur mit einer Arbeit zu Johannes R. Becher, Iwan Goll, Rainer Maria Rilke und Gottfried Benn mit dem Titel »Wegscheiden. Deutsche Lyrik im Entscheidungsfeld der Revolutionen von 1917 und 1918«.

Ihre Emeritierung erfolgte im Jahr 1991, dem Jahr, in dem das ZIL »abgewickelt« wurde.

Ihre Forschungsschwerpunkte wurden die deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts, insbesondere die des Expressionismus‘, die Exilliteratur und die deutsch-jüdische Literatur.

Zu ihrer wichtigsten Arbeit geriet in dieser Zeit die Erforschung und Darstellung der Literatur zum spanischen Bürgerkrieg. Im Band 6 der zwischen 1979 und 1987 in Leipzig erschienenen Reihe »Kunst und Literatur im antifaschistischen Exil 1933-1945« verantwortete sie den Beitrag »Exil und antifaschistischer Kampf in Spanien« und beteiligte sich maßgeblich auch an der Ausarbeitung der anderen Bände.

»Wer schreibt, handelt« lautet der Titel einer Monographie, die 1983 von ihr herausgegeben und in weiten Teilen von ihr verfasst wurde. Der Untertitel lautete »Strategien und Verfahren literarischer Arbeit vor und nach 1933«. Kulturtheoretische und literatursoziologische Untersuchungen mit dem Fluchtpunkt Literaturästhetik wurden zu Leitfäden dieses außergewöhnlichen Buchs, das ergänzt wurde durch textnahe Einzeluntersuchungen zu Ernst Ottwalt, Klaus Mann, Egon Erwin Kisch, Anna Seghers, und anderen, und natürlich zu den Lyrikern Brecht, Becher, Goll, Theodor Kramer. Das innovative Grundkonzept des Buches bestand darin, dass die Zäsur von 1933 aufgegeben wurde zugunsten einer Periodisierung, die die Jahre vor und nach diesem Einschnitt einbezieht und das Prozesshafte der Entwicklung stärker hervortreten lässt.

Ihr nationales und internationales Renommee verdankt sie zahlreichen wissenschaftlichen Publikationen und Vorträgen, die sie in fast allen Ländern Europas und Übersee gehalten hat. Es würde den Rahmen der Erinnerung sprengen, wenn man alle ihre Publikationen hier würdigen wollte.

Es kann aber auf die folgenden Hinweise nicht verzichtet werden: 1988 gab sie in einem Leipziger Verlag das Buch »Else Lasker-Schüler: Gedichte, Prosa, Briefe, Dokumente« heraus.

Elf Jahre später, 1999, schrieb sie einen umfangreichen Aufsatz mit dem programmatischen Titel »Deutschsprachige Lyrik nach 1900 von Dichterinnen jüdischer Herkunft«. Ins Zentrum rückte sie die Autorinnen Mascha Kaléko, Nelly Sachs, Else Lasker-Schüler, Gertrud Kolmar, Ilse Blumenthal-Weiss und Rose Ausländer.

2001 wurde sie zur Herausgeberin des Romans »Transit« von Anna Seghers. Es war eines ihrer Lieblingsbücher. Ganz zuletzt, von Krankenhausaufenthalten geschwächt, bearbeitete sie noch einen weiteren Band für die neue Seghers Gesamtausgabe mit der Novelle »Der Ausflug der toten Mädchen« im Zentrum. Im März 2011, wenige Tage vor ihrem Tod, lieferte sie die Arbeit ab.

Ich hatte zahlreiche Begegnungen mit Silvia -Schlenstedt, auf Tagungen, Konferenzen in ihrer von Büchern überquellenden Wohnung in der Berliner Seelenbinderstraße 21. Sie war eine faszinierende Persönlichkeit und eine großartige Wissenschaftlerin. Ihr Tod reißt eine große Lücke vor allem in die Forschungen zur Exilliteratur. Ihr verdanke ich auch den Hinweis auf das einzige deutschsprachige Kinder- und Jugendbuch zum Spanischen Bürgerkrieg, auf das Buch »Vier spanische Jungen« der deutsch-jüdischen Kinder- und Jugendbuchautorin Ruth Rewald, das Ausgangspunkt wurde für den wissenschaftlichen Blick auf die Kinder- und Jugendbuchautorinnen und -autoren im Exil 1933-1945 und für meine Dissertation und Promotion an der Bergischen Universität Wuppertal.