Wir waren Nachbarn

geschrieben von Achim Lehmann

5. September 2013

Ausstellung jüdischer Biographien in Berlin-Schöneberg

Sept.-Okt. 2010

»Wir waren Nachbarn« in der Ausstellungshalle im Rathaus Schöneberg, John-F.-Kennedy-Platz

Samstags bis Donnerstags jeweils 10:00 bis 18:00 Uhr, Eintritt frei.

Nächste Rahmenprogrammtermine:

Do, 23.09., 20:00 Uhr: Zeitzeugengespräch mit Ilse Treister, Schülerin der Zickel-Schule.

Di, 26.10., 19:00 Uhr: Zeitzeugengespräch mit Inge Deutschkron zu ihrem Buch »Offene Antworten«.

Ein wichtiger Aspekt der Erinnerungsarbeit ist es, die Opfer aus der Indifferenz der durch die Nazis betriebenen Entmenschlichung zurückzuholen, und ihnen als Personen ihren Namen und als Bürgern den ihnen zustehenden Platz wiederzugeben, welche ihnen auf grausame Weise genommen wurden. Erst dann wird es in der Beschäftigung mit dem Einzelnen möglich, die Realität des Unfassbaren gefühlsmäßig zu erschließen. Aus Zahlen werden wieder Menschen, und siehe da, was für völlig unterschiedliche Charaktere und Biographien sich da entgegen aller Vorurteile vor einem auftun.

Genau das leistet in Berlin die Ausstellungsinstallation »Wir waren Nachbarn« im Rathaus Schöneberg, die, nachdem sie in den letzten Jahren seit 2005 immer von Ende Januar bis Ende April in der Ausstellungshalle des Rathauses präsentiert wurde, dort nun ganzjährig besuchbar ist – die Senatsverwaltung für Kultur stellte für diesen Zweck 100.000 Euro bereit.

Hauptelemente der Exposition sind 131 biographische Alben über ehemalige jüdische Nachbarn in Tempelhof-Schöneberg. In diesen Alben werden eindringlich ihre Lebenswege vor, während und, sofern sie überlebten, nach der NS-Zeit beschrieben. Außerdem sind Briefe, Fotos und andere Dokumente enthalten. Neben einigen Prominenten gewidmeten Alben gibt es eine große Anzahl von solchen, die in Zusammenarbeit mit jüdischen Zeitzeugen und ihren Nachkommen produziert wurden, womit auch der Themenbereich Exil/Emigration ausgiebig behandelt wird, ergänzt durch übersichtliche Informationstafeln zu den Exilländern.

Ein weiteres Element der Ausstellung sind die Karteikarten an den Seitenwänden mit Informationen über die mehr als 6000 deportierten und ermordeten Schöneberger Juden, die der Bezirksverordnete Andreas Wilcke in den 80er Jahren aus den Akten der Finanzverwaltung auslas, und die nach der Berliner Bezirksreform um die Tempelhofer Juden ergänzt wurden. Interessierte können die Gedenkbücher des Bezirks und Berlins, das Jüdische Adressbuch Berlins von 1931/32, biographische Literatur und Veröffentlichungen der anderen Bezirke einsehen. Ein »Archiv der Erinnerung«, das einzelne Dokumente, Erinnerungssplitter und Bezeugungen von Besuchern versammelt, und ein Info-Monitor mit Glossar und weiteren Informationen zum Bayerischen Viertel, dem früheren Zentrum jüdischen Lebens in Schöneberg, stehen den Besuchern zur Verfügung. Diese können auch einen Film ansehen, der in einer Dreiviertelstunde jüdische und nichtjüdische Zeitzeugen zu Wort kommen lässt. Im Herausgehen sieht man eine Wand mit Artikeln zu aktuellen antisemitischen Vorfällen in Berlin/Brandenburg.

Da die Alben jährlich ergänzt werden und neue dazukommen, ist die Ausstellung im Ganzen als »work in progress« zu verstehen, wodurch es auch für die vielen wiederkehrenden Besucher immer wieder Neues zu finden gibt. Dieses Angebot wird sehr gut angenommen. Das gilt auch für das Rahmenprogramm, das Veranstaltungen zu den Alben und den jährlich wechselnden Schwerpunkten (2010 das Thema Schule) präsentiert, meistens in Form von Zeitzeugengesprächen.

Nachdem in der Vergangenheit auf der Gruppenebene vor allem Schulklassen die Ausstellung besuchten, kommen nun durch die Ganzjährigkeit verstärkt internationale Reisegruppen. Auch von diesen ist die Resonanz sehr gut, was beweist, wie sinnvoll diese Form der lokalen Geschichtsaufarbeitung die vielfältige Berliner Erinnerungslandschaft ergänzt. Nun gilt es, die Dauerhaftigkeit, die bis Ende 2011 gesichert ist, auch darüber hinaus zu gewährleisten. Die verdienstvollen Organisatoren von »Wir waren Nachbarn«, das Kunstamt Tempelhof-Schöneberg und der Förderverein »frag doch!«, wollen das über eine Stiftung organisieren. Es gilt zu hoffen, dass dies ihnen gelingt, damit weiter auf so intensive Weise »den Gravuren der Zeitgeschichte im gelebten Leben« (eine Formulierung, die der Kunstamtsleiterin Katharina Kaiser als besonders treffend begegnete) nachgespürt werden kann.