Das Versagen aller

8. Februar 2018

Auszüge aus dem Plädoyer von Mehmet Daimagüler im Münchner NSU-Prozess

Der NSU-Komplex hat unsere Gesellschaft… in ihren Grundfesten erschüttert. Eine Gesellschaft, die auf den Grundsätzen von Freiheit und Gleichheit, von Toleranz und Menschlichkeit aufbaut. In der schlichten und doch wirkmächtigen Sprache unseres Grundgesetzes heißt es: »Die Würde des Menschen ist unantastbar«, »Jeder hat das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit« und »Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich«. Dass diese Werte verletzbar sind, stellt das Grundgesetz selbst unmissverständlich klar. In seiner wichtigen Rede vor dem Deutschen Bundestag zu »65 Jahre Grundgesetz« sagte mein Schulkamerad, der Schriftsteller Navid Kermani: »Denn wäre die Würde des Menschen unantastbar, wie es im ersten Satz heißt, müsste der Staat sie nicht achten und schon gar nicht schützen, wie es der zweite Satz verlangt.« Würde, Freiheit, Gleichheit  – es waren die fundamentalen Werte unseres Landes, die von den Kugeln des NSU durchlöchert wurden. Und wir alle sind aufgerufen, diese Werte zu verteidigen…

Erst neulich habe ich mir die Rede unserer Bundeskanzlerin (vom 23. Februar 2012 d. Red.) noch einmal angeschaut. Erst jetzt sind mir Dinge aufgefallen, die mir damals nicht aufgefallen sind. Genauer gesagt: Nicht das, was sie sagte, fiel mir auf, sondern das, was fehlte. Zwar erwähnte sie, dass die meisten Opfer aus der Türkei stammen. Sie sagte aber nicht, dass die meisten Opfer Türken und Muslime waren. Theo Boulgarides, so vermutet man, musste sterben, weil die Täter ihn für türkischstämmig hielten.

Die Veröffentlichung der Auszüge erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlages Mehmet Daimagüler: Empörung reicht nicht!: Unser Staat hat versagt. Jetzt sind wir dran. Mein Plädoyer im NSU-Prozess. Bastei Lübbe, 350 Seiten, 18 Euro

Die Veröffentlichung der Auszüge erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlages
Mehmet Daimagüler: Empörung reicht nicht!: Unser Staat hat versagt. Jetzt sind wir dran. Mein Plädoyer im NSU-Prozess. Bastei Lübbe, 350 Seiten, 18 Euro

Wieso sagte die Bundeskanzlerin nicht klipp und klar, dass neun Menschen sterben mussten, weil manche in Deutschland einen Hass auf Muslime und Türken haben? Es wurden keine Italiener oder Spanier umgebracht, sondern Türken. Es leben viele Migranten in Deutschland, aber nur wir Türken sind zumeist auch Muslime. Das unterscheidet uns. Sprach Merkel nicht über diesen Umstand, weil sie Sorge hatte, sich eingestehen zu müssen, dass der Hass gegen Muslime und Türken nicht geringer, sondern in den letzten Jahren größer geworden ist? Dass dieser Hass nicht nur in den kalten Herzen von Nazis schlummert, sondern auch tief in der Mitte unserer Gesellschaft zu finden ist? Jeder Nazi ist islamophob, antisemitisch und rassistisch, aber nicht jeder Rassist, Antisemit und Muslimhasser ist ein Nazi. Wir machen es uns zu einfach, wenn wir mit Abscheu über Nazis sprechen, dabei aber über Thilo Sarrazin und den gesellschaftlich akzeptierten Rassismus, für den dieser Name dank seiner brandstiftenden Bücher steht, schweigen wollen.

»Wir wollten einfach nur wie normale Menschen behandelt werden.« In einem der Gespräche, die Altbundespräsident Christian Wulff mit Hinterbliebenen geführt hat, fiel dieser Satz. »Wie normale Menschen«  – diese Worte zeigen, wie verzweifelt die Angehörigen damals waren. Das Erschütternde: Diese Worte können auch heute noch, Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU, von vielen anderen Menschen mit allem Recht der Welt ausgesprochen werden. Von jenen Menschen aus den Staaten des Nahen Ostens, die ein Leben in Freiheit und Würde führen wollen und aus ihrer zerstörten Heimat geflohen sind. Von jenen Menschen, die aus der Armut und dem Elend Afrikas zu uns kommen, die von einem besseren Leben für ihre Kinder träumen und die für uns bloß »Wirtschaftsflüchtlinge« sind. Von Schwulen und Lesben, denen man jene Rechte verweigert, die für die Mehrheit so selbstverständlich und grundgesetzlich verbrieft sind. Von Sinti und Roma, für deren in unseren Konzentrationslagern von unseren Groß- und Urgroßeltern umgebrachten Groß- und Urgroßeltern wir ein Mahnmal im Herzen Berlins errichtet haben, über die aber selbst Politiker der Mitte so reden, als seien sie menschlicher Ballast. Von Juden, denen in Zusammenhang mit der Beschneidungsdebatte auch von Herrn Doktor und Frau Professorin in Leserbriefen attestiert wurde, sie hingen einer »archaischen« Religion an. Dass dies auch für Muslime gelte, verstand sich von selbst. Es reicht nicht, über Nazis zu sprechen. Wir müssen auch über uns sprechen, über die Art und Weise, wie wir über andere Menschen reden und urteilen.

 

Staats-Rassismus

Neun Männer und eine Frau mussten sterben, weil in den Herzen der Mörder der Hass loderte. Sie mussten aber auch sterben, weil die Sicherheitskräfte ihre Arbeit nicht machten, jedenfalls nicht so, wie sie es hätten tun müssen. Der Sicherheitsapparat hat versagt. Man hört in diesem Kontext immer von »Pannen« in der Sicherheitsarchitektur. Geheimdienst A hätte mit Polizeibehörde B Informationen besser austauschen sollen. Formular C müsse in seiner Struktur verbessert werden. »Pannen« eben – und hat man diese beseitigt, ist das Problem gelöst.

Von »Pannen« zu sprechen ist im Kontext des staatlichen Versagens im NSU-Komplex keine ehrliche Selbstreflexion. Es ist eine Verhöhnung der Opfer. Der Begriff »Panne« soll verniedlichen und technisieren. In diese Richtung zielt auch das Gerede von »Defiziten in der Sicherheitsarchitektur«. Über »Technik« zu sprechen fällt leicht, jedenfalls leichter als über Haltung und Denken.

Die Haltung in den Köpfen vieler Kriminalbeamter war diese: Ein erschossener Türke muss in den Drogenhandel verwickelt sein. Obgleich zahlreiche Zeugen an zahlreichen Tatorten von zwei kurzgeschorenen, deutsch beziehungsweise osteuropäisch aussehenden Männern auf Fahrrädern berichteten, wurde keine Fahndung nach diesen Männern eingeleitet. Stattdessen kamen die Drogenhunde, stattdessen wurden die Telefone von Witwen und Halbwaisen abgehört. Türkeistämmige Opfer durften keine Opfer sein. Weder die Toten noch die Hinterbliebenen. Und doch wurden sie um ein Leben betrogen, und doch hat man ihnen die Würde genommen. Den Toten nahmen die Verbrecher die Würde, als sie ihnen in die Köpfe schossen und als sie die Sterbenden fotografierten, um diese Bilder in das Paulchen-Panther-Bekennervideo einzubauen. Den Opferfamilien wiederum wurde die Würde von einem Sicherheitsapparat genommen, der den Trauernden nicht erlaubte zu trauern und sie zu Objekten von Denunziation und Verdächtigungen machte.

Und heute? Nach fast 400 Verhandlungstagen in München und über hundert vernommenen Polizeibeamten bleibt das Gefühl, dass sich in den Köpfen nichts geändert hat und dass im Grunde genommen die Beamten von der Richtigkeit ihres damaligen Handelns heute immer noch überzeugt sind. In einer »Operativen Fallanalyse« des Landeskriminalamtes Baden-Württemberg heißt es lapidar: »Vor dem Hintergrund, dass die Tötung von Menschen in unserem Kulturkreis mit einem hohen Tabu belegt ist, ist abzuleiten, dass der Täter hinsichtlich seines Verhaltenssystems weit außerhalb des hiesigen Normen- und Wertesystems verortet ist.« Im Laufe des Berichts wird es konkreter. Da die Morde besonders brutal ausgeführt wurden, muss es, so heißt es, um mehr als nur um Geschäftliches gegangen sein. Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass es hier zusätzlich um einen Mord aus verletzter Ehre gehe. Ein geschäftlicher Ehrenmord sozusagen.

Deutsche töten also wegen ihrer überlegenen Kultur nicht, das machen nur Ausländer, und zwar Ausländer, die einem übertriebenen Ehrbegriff anhängen. Das ist die Botschaft.

Dieses Papier wurde nicht von einem, sondern von vielen hohen Beamten erstellt. Das Papier ging im Innenministerium des Landes Baden-Württemberg durch zahlreiche Hände. Es wurde weitergeleitet an Dienststellen in anderen Bundesländern. Niemand, nicht ein einziger Leser, sagte: »Moment einmal, diese Aussage ist nicht nur grotesk falsch, sondern sie ist auch rassistisch.« Richtig: rassistisch. Wenn dieses Papier nicht der pure Ausdruck von Rassismus ist, dann gibt es keinen Rassismus. Bis heute hat niemand diese Aussage richtiggestellt, kein Innenminister und kein Vorsitzender einer Polizeigewerkschaft. Es konnte nicht sein, was nicht sein durfte.

Ein Urteil in Bezug auf die Mordopfer selbst war hingegen schnell gefasst. Im genannten Bericht des Landeskriminalamtes attestierten die Beamten den Opfern ohne genauere Erklärung einen »Umgang mit Geld, der merkwürdig erscheint«. Allein aus dieser subjektiven Bewertung wird geschlossen, dass die Opfer sich durch eine »erhöhte Empfänglichkeit aus[zeichneten], die eigene finanzielle sowie ökonomische Situation durch illegale oder mit einem erhöhten Risiko verbundene Aktivitäten zu verbessern«. Bei sieben der neun Opfer hätten ferner Auffälligkeiten im Kontext von Betäubungsmitteln bestanden – eine Aussage, die vor dem Hintergrund der damaligen Ermittlungsergebnisse schlicht falsch war. Und es geht weiter: So hätten »alle 9 Opfer […] Kontakt zu einer Gruppierung, die ihren Lebensunterhalt mit kriminellen Aktivitäten bestreitet und innerhalb derer zudem ein rigider Ehrenkodex bzw. ein rigides inneres Gesetz besteht«

Der »rigide Ehrenkodex« spielt sodann auch bei der abschließenden Erstellung eines Täterprofils eine zentrale Rolle, dient er doch zur Feststellung einer Täterherkunft aus dem »ost- bzw. südosteuropäischen Raum (nicht europäisch-westlicher Hintergrund)«

Dass es für diese unglaublichen Vorwürfe keinerlei Beweise gab, zeige, so die Behörden, wie konspirativ die Leute vorgegangen seien. Derartiges Denken, derartig verkürzte und vorurteilsbehaftete Schlüsse haben einen Namen: Rassismus.

Von den vielen Polizeibeamten, die in den mehr als zehn Jahren der NSU-Ermittlungen mit der Mordserie befasst waren, sind viele als Zeugen vor Gericht erschienen. Dort sind sie auf die Opfer gestoßen, die sie so lange unberechtigterweise selbst verdächtigt hatten. Es wäre eine Gelegenheit gewesen, Frieden zu stiften, sich zu entschuldigen. Kein einziger der Beamten hat das getan. Es ist eine bittere Ironie des Schicksals, dass die Denkmuster der hier agierenden Beamten bezüglich der Betroffenen denen des NSU leider schlicht ähnlich waren. Denn die Mordopfer werden hier ihrer Individualität beraubt. Sie sind nicht mehr der 21-jährige junge Mann, der gerade für das Abitur lernt und seinem Vater im Internetcafé aushilft. Nicht der Blumenhändler, der hart arbeitet, um seiner Familie ein besseres Leben zu ermöglichen. Sie sind »Türken«. Keine Menschen um ihrer selbst willen, sondern Repräsentanten einer Gruppe, denen man aus Dummheit und Voreingenommenheit bestimmte Eigenschaften zuschreiben will. »Wenn der konkrete Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe herabgewürdigt wird«  – das ist eine gängige juristische Formel für eine Verletzung der Menschenwürde. So wurde den Opfern vom NSU zuerst das Leben genommen. Der Staat nahm ihnen im Anschluss die Würde.

Die neue deutsche Furcht vor dem Anderen

Als Nebenklägeranwalt habe ich Hunderte Aktenordner mit Tausenden von Seiten über die NSU-Taten studiert. In den Akten befinden sich zahlreiche Fotos. Fahndungsfotos, Fotos von Waffen, von Fahrzeugen und Tatorten. Bilder der Opfer, die in ihrem Blut liegen, mit zerschossenen Gesichtern. Obduktionsfotos der Opfer, aber auch der mutmaßlichen Täter. Es sind Bilder, die niemanden, mich ganz sicher nicht, unberührt lassen, Bilder, mit denen man ins Bett geht und mit denen man aufwacht. Dennoch gibt es da auch noch einige andere Fotos, die mich unentwegt beschäftigen. Es sind Bilder der beiden Haupttäter, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, im Alter von vielleicht zwölf Jahren. Sie zeigen die beiden Jungs, jeweils mit ihren Müttern auf dem Sofa oder mit ihren Freunden auf dem Spielplatz, wie sie herumalbern und Quatsch machen. Man blickt in offene, freundliche, liebe Kindergesichter. Dann sehe ich Mundlos und Böhnhardt auf anderen Fotos, ein paar Jahre später. Kahlgeschoren. Mit Bomberjacken und hasserfüllten Gesichtern. Die Hand zum Hitlergruß erhoben. Und ich frage mich: Was ist mit diesen Kindern passiert?

Ich habe großes Mitleid mit den Mordopfern und mit ihren Angehörigen, die Opfer waren, es aber lange nicht sein durften. Deren Geschichten wir Anwälte immer wieder fassungslos anhören. Manche erfährt man nur nebenbei, auf dem Gerichtsflur oder draußen, bei einer Zigarettenpause. Man hört sie und hofft inständig, es möge sich um ein Missverständnis handeln. Da erzählt mir der Bruder eines Mordopfers, wie er selbst wochenlang unter Tatverdacht gestanden habe. Am Ende sei es um die Freigabe der Leiche gegangen, damit die Familie endlich Abschied nehmen konnte. Der zuständige Beamte habe gesagt: »Die Leiche können Sie haben, aber den Kopf behalten wir. Den brauchen wir noch für Untersuchungen.« Die Familie bekam einen verschweißten Zinksarg. Bis heute, sagte der Mann, wisse er nicht, ob sein enthaupteter Bruder mit oder ohne Kopf seine letzte Ruhe gefunden habe.

Aber ich empfinde auch Mitleid mit Mundlos und Böhnhardt. Nicht mit den Mördern, zu denen sie wurden, sondern mit den Kindern, die sie einmal waren und die die Chance hatten, ein Leben zu leben, in dem sie Liebe hätte geben und Liebe hätten erfahren können. Wie konnten aus diesen Kindern Mörder werden? Das ist eine Frage, die das Gericht nicht zu beantworten vermochte. Diese Frage müssen wir uns stellen, wir alle, die wir Bürger dieses Landes sind. Wir scheuen eine solche Debatte jedoch, weil sie uns weg von den Nazis und zurück zu uns führen würde.

Meine Freunde und Bekannten, vor allem meine deutschen Freunde, sind entsetzt über die NSU-Morde. Sicher, die verbale Solidarität ist groß. Aber bei der Frage nach den Wurzeln des Hasses schauen und hören sie betreten weg. Denn plötzlich ist der Hass nicht weit weg, nicht bei den Glatzen, die zu verachten so leicht ist, sondern ganz nah bei uns selbst. Und so scheitert der Kampf gegen den Rassismus oft schon daran, dass er nicht geführt wird. Gründe dafür gibt es viele. Die neue deutsche Furcht vor dem Anderen, Bequemlichkeit, Feigheit, manchmal auch klammheimliche Kumpanei. Die Hauptgründe sind aber andere: Ignoranz und Blindheit. Viele Menschen assoziieren Rassismus nur mit kahlgeschorenen Köpfen, Springerstiefeln und Bomberjacken. Wie viele Skinheads dieser Art gibt es schon? Hundert? Tausend? Fünftausend? Was sind schon Fünftausend gegen 83 Millionen?

Die Wahrheit ist jedoch eine andere. Rassisten 2.0 sehen anders aus und reden anders als früher. Früher konnte man vielleicht »Rassist« und »Nazi« synonym verwenden. Das hat sich geändert. Jeder Nazi ist ein Rassist, aber nicht jeder Rassist ein Nazi. Der moderne Rassist nennt vielleicht »Die Simpsons« als seine Lieblingsserie und hört am liebsten »Rosenstolz«. Er schwadroniert nicht mehr über die Überlegenheit der einen Rasse über die andere. Er spricht lieber über die Zurückgebliebenheit der einen Kultur und der daraus folgenden Überlegenheit der eigenen Kultur. Er sorgt sich um die kulturelle Identität seiner Heimat und wegen der »Zuwanderung in die Sozialkassen«. Er gibt sich tierlieb und fordert ein Verbot der Schächtung. Er gibt sich kinderlieb und fordert ein Verbot der Beschneidung. Er gibt sich als »Frauenversteher« und fordert ein Verbot des Kopftuchs. Er fordert ein Verbot des Korans, schließlich stand ja auch Hitlers Mein Kampf auf dem Index. Er kämpft für unsere Freiheit und will alles verbieten, was er nicht kennt oder nicht kennen will.

Der moderne Rassismus ist oft subtil, und die Subtilität steigt mit dem Bildungsgrad. Das macht den Kampf gegen Rassismus unbequem. Wer will schon gegen Menschen argumentieren, die offenbar Kinder lieben, Frauen achten und Tiere schützen wollen? Wer will es wagen, solche Menschen Rassisten zu nennen? Natürlich sind die meisten Menschen, die sich für die Rechte von Kindern, Frauen und Tieren engagieren, keine Rassisten. Gott sei Dank. Aber man sollte schon aufhorchen, wenn Menschen, denen im Alltag Kinder und Frauen vollkommen gleichgültig sind, plötzlich hyperengagiert auftreten, wenn diese Themen beispielsweise im Kontext von Muslimen oder Juden diskutiert werden.

Als Gesellschaft haben wir durch unsere Geschichte im Umgang mit Fremdenfeindlichkeit ein hohes Maß an Sensibilität gewonnen. Das ist eine große zivilisatorische Leistung der Alliierten, der Nachkriegsgenerationen, der 68er-Bewegung. Doch zuweilen hat diese Sensibilisierung eine konträre Wirkung. Der Begriff »Nationalsozialist« ist in unserem kollektiven Gedächtnis als geächtet eingebrannt. Jeder weiß heute, dass »ein Nazi sein« etwas Schlechtes ist. Daher engen wir kurzerhand die Definition dessen, was denn ein Nazi sei, bis zur Unkenntlichkeit ein. Die Methode treibt mitunter absurde Blüten: Im NSU-Verfahren waren Personen aus dem Umfeld von Beate Zschäpe im Zeugenstand. Ob sie sich selbst als »rechtsradikal« einstufen würden, wurden sie gefragt. Die Frage wurde vehement verneint. Die Anwälte der Nebenklage versuchten daraufhin, ihre Ansichten und Lebensumstände abzuklopfen. Ausländer? Das seien doch alles Verbrecher. Flüchtlinge und Asylbewerber sowieso. Das Porträt von Adolf Hitler, das über dem Tisch im Keller hing, in dem sich Beate Zschäpe zum Kartenspielen verabredete? Ganz normal. Wir sind doch keine Nazis!

Ortswechsel: Dresden, eine Demonstration von PEGIDA, der »Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes«. Die Bewegung, die Ende 2014 an Fahrt gewonnen hat, organisiert jeden Montag »Abendspaziergänge« gegen eine behauptete »Islamisierung des Abendlandes« und gegen eine als falsch empfundene Asyl- und Migrationspolitik. Ein Demonstrationsteilnehmer wird von einem Journalisten gefragt: Sind das alles patriotische Europäer, die hier demonstrieren? Er antwortet: Auf alle Fälle seien es keine Nazis in Nadelstreifen. Man solle sich doch mal umsehen hier, das seien doch »alles stinknormale Leute, die ihre Sorgen hier zu Recht darstellen wollen!«. Ein älterer Herr neben ihm pflichtet ihm bei. Er wird gefragt, was er denn zum Ausdruck bringen wolle? Da ist sich der Herr ganz sicher: »Dass ich gegen die Ausländer bin, dass so viele hier reinkommen, das ist mein Grund, warum ich hier bin. Und die kriegen einen Haufen Geld.«

Später fordert ein Mann mit ergrautem langem Pferdeschwanz, man solle jeden Ausländer, der das Land betrete, erst einmal isolieren. Wegen der Krankheiten. In München konnte man zuweilen den als NSU-Helfer angeklagten André Eminger bei der lokalen Pegida-Demo mitlaufen sehen. Tagsüber auf der Anklagebank in einem Verfahren, wo es um Gewalt gegen Migranten geht, und am Abend Seite an Seite mit »besorgten Bürgern« gegen zu viele Migranten im Land. So wird sichtbar, was zusammengehört.

In seiner bürgerlichen Ausprägung ist der Rassismus zugleich Ausdruck eines fortwährenden kollektiven Bedürfnisses, die historische Distanz zwischen dem Jetzt und dem Damals so groß wie möglich zu halten. Gern bezeichnen wir den Übergang von der Nazi- zur Nachkriegszeit in Deutschland als »Stunde Null«. Der Moment, ab dem schlagartig alles anders war. Der die Zäsur bildet, welche uns von der dunkelsten Seite unserer Geschichte abzuschirmen vermag. Doch unsere »Stunde Null« war eben ein Übergang  – und kein abrupter Bruch. Mit den 68ern hatte es sich eine ganze Generation zur Aufgabe gemacht, aus dieser Erkenntnis die richtigen Schlüsse zu ziehen. Die Nazis von damals sind heute fast alle tot. Doch einige ihrer Ideen haben überlebt. Der NSU hat sehr wohl etwas mit unserer Vergangenheit zu tun. Die Täter wollen ganz bewusst an diese Vergangenheit anknüpfen.

Bereits die Abkürzung »NSU« ist nicht zufällig gewählt – sie orientiert sich an der Abkürzung NSDAP, der »Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei« der Zwanziger-, Dreißiger- und Vierzigerjahre. Ignorieren wir den Zusammenhang zwischen dem NSU und seiner ideologischen Inspiration, die er in den Ideen und der Sprache des sogenannten »Dritten Reiches« findet, werden wir das Problem nie ganz erfassen. Es ist einfach, den Skinhead-Rassisten zu verurteilen. Es ist jedoch ungleich schwieriger, den manchmal gar nicht so subtilen Rassismus unserer Freunde, Kollegen und Verwandten als solchen zu benennen. Wo er uns an die dunkelsten Stunden unserer Geschichte erinnert. Der Kampf gegen den Rassismus muss aber genau da geführt werden: Wo er unseren Herzen so nah ist und das Aufbegehren deswegen schmerzt.

 

Mehmet Daimagüler vertrat im NSU-Prozess als Anwalt der Nebenklage die Tochter von İsmail Yaşar und die Geschwister von Abdurrahim Özüdoğru.

 

Abdurrahim Özüdoğru war 49 Jahre alt, als er am 13. Juni 2001 mit zwei Schüssen in den Kopf in seiner Schneiderei in Nürnberg ermordet wurde. İsmail Yaşar war der Inhaber eines Döner-Kebap-Imbisses, als er am 9. Juni 2005 in seinem Stand in der Nürnberger Scharrerstraße mit fünf Schüssen in den Kopf und in den Oberkörper erschossen wurde. Er wurde fünfzig Jahre alt.