»Die Ostdeutschen«

geschrieben von Regina Girod

20. Mai 2019

Reflexion einer Begegnung mit alten Fotos

 

In letzter Zeit widmen sich Politik und Medien – nach 30 Jahren gesamtdeutscher Bundesrepublik – vermehrt den »Ostdeutschen«. Wer sind sie? Was wollen sie? Und natürlich: Warum wählen sie die AfD? Darüber wird in Talkshows debattiert und in der Politik gestritten. Filme und Romane haben sich deutsch-deutscher Themen angenommen – auf beiden Seiten ist bis heute ein Gefühl von Fremdheit geblieben.

Den Jahrestag der deutschen Einheit schon im Blick, wurde im April in Berlin eine Ausstellung mit Fotos von Roger Melis eröffnet. »Die Ostdeutschen« lautet ihr provokanter Titel und das Medien-echo war beachtlich. Das mag zum einen daran liegen, dass vor allem seine Künstlerporträts zeitlos prägend sind. Wer sich heute vorstellt, wie Anna Seghers, Heiner Müller oder Christa Wolf ausgesehen haben, hat zumeist ein Foto von Roger Melis im Kopf. Doch auch der Zeitgeist kann zu dem Echo beigetragen haben, denn nach der »Wende« waren Melis´ Fotos, der schon 2009 mit 69 Jahren verstorben ist, kaum mehr präsent. Gezeigt werden nun 160 Fotografien aus den Jahren 1959 bis 1989, also 30 bis 60 Jahre alt. Für junge Menschen ist dieser Zeitraum schon historisch, der kulturelle und soziale Kontext der Bilder nicht mehr abrufbar. Doch was empfindet man als »Zeitgenossin« bei ihrem Anblick, vor allem wenn man selber aus dem Osten kommt? Können Fotos mehr erwecken, als nur persönliche Erinnerung?

Zur Ausstellung sind im Lehmstedt Verlag der Begleitband »Die Ostdeutschen« mit Reportagen und Porträts aus dem Nachlass von Roger Melis und eine zweisprachige Neuausgabe seines lange Zeit vergriffenen Kultbuches »In einem stillen Land« erschienen

Zur Ausstellung sind im Lehmstedt Verlag der Begleitband »Die Ostdeutschen« mit Reportagen und Porträts aus dem Nachlass von Roger Melis und eine zweisprachige Neuausgabe seines lange Zeit vergriffenen Kultbuches »In einem stillen Land« erschienen

Der Ort der Präsentation könnte passender nicht sein – eine zur Ausstellungshalle umgebaute Fabrikhalle des Transformatorenwerkes Oberschöneweide, ehemals volkseigen und »TRO« genannt. Auf ihrer Website firmiert sie heute als »Halle des ehemaligen AEG-Transformatorenwerks«. Nach mehr als 40 Jahren hatte die AEG sie wieder übernommen, doch produziert wird hier schon lange nichts mehr. So steht der Raum einerseits als Symbol dafür, was von der DDR geblieben ist. Andererseits bietet er einen guten Rahmen für die vielen Fotos, die Menschen an ihrem Arbeitsplatz oder bei der Arbeit zeigen. Der erste Eindruck beim Betreten der Halle ist Vertrautheit. Die künstlerische Fotografie der DDR war überwiegend schwarz-weiß und hat Formensprachen entwickelt, die für immer erkennbar sind. Melis´ Bilder strahlen eine große Ruhe aus. Eine Rezensentin schrieb, sie wirkten wie aus der Zeit gefallen und das sind sie auch. Es sind Fotos aus einem anderen Land und einer anderen Zeit. Roger Melis selbst hat 2007 seine letzte Ausstellung »In einem stillen Land« genannt. Im Vergleich zu heute war die DDR tatsächlich ein stilles kleines Land; doch mit eigenen Werten und einer eigenen Kultur.

Roger Melis ist in einer Künstlerfamilie aufgewachsen. Sein Vater war Bildhauer, sein Stiefvater der Dichter Peter Huchel. Das hat seinen Blick auf die Menschen und seinen künstlerischen Anspruch geprägt und wahrscheinlich auch seinen Abstand zu politischen Ritualen, von denen es in der DDR viele gab. Melis´ großformatige Arbeiten zum Thema »Tag der Befreiung« haben mich unberührt gelassen, das Riesenfoto der Neubaublöcke von Marzahn im Schnee wirkte auf mich fast befremdlich, doch bewundernd stand ich vor dem »-Großen Wachaufzug«, einem Foto voll subtiler Ironie. 15 Jahre Altersunterschied, eine andere Sozialisation und andere Erfahrungen prägen eine andere Sicht auf die Welt. Roger Melis` Bild der DDR und meines sind verschieden, aber seine Fotos haben mich inspiriert.

Tief berührt hat mich jedoch sein Menschenbild, für immer festgehalten in seinen Porträts. Denn Roger Melis hat keineswegs nur Künstler und Intellektuelle fotografiert. Ungezählte Arbeiter, Bauern, Handwerker und Verkäuferinnen hat er mit dem gleichen Respekt und Verständnis für ihre Persönlichkeit porträtiert. Gelassen blicken sie in die Kamera, manche freundlich, die meisten ernst, fast alle an ihrem Arbeitsplatz. Und sie strahlen Würde aus. Die Würde arbeitender Menschen, deren Leben einen Sinn besitzt. Zeugnisse einer verlorenen Welt.

Ausstellung »Die Ostdeutschen« noch bis zum 28. Juli 2019 in den Rheinbeckhallen, Reinbeckstraße 17, 12459 Berlin