Wie viel Antifaschismus gab es in 
der DDR?

geschrieben von Axel Holz

15. Mai 2020

Daniela Dahn findet Belege für eine aktive und dauerhafte 
Auseinandersetzung mit dem Faschismus in der DDR

Das jüngste Buch von Daniela Dahn »Der Schnee von gestern ist die Sintflut von heute« ist Teil einer Neubewertung der DDR, des Einigungsprozesses und der Ostdeutschen heute. Der Ostexperte Ilko-Sascha Kowalczuk hatte mit seinem Buch »Die Übernahme« bereits das tradierte öffentliche Bild des Transformationsprozesses im Osten ins Wanken gebracht. Auch Steffen Mau hatte dazu in »Lütten Klein« erstaunliche soziologische Belege erbracht und dauerhafte Friktionen im Ergebnis des Einigungsprozesses konstatiert.

Widerspruch zu Erfahrungen

Seit dreißig Jahre wird neben beachtlichen kritischen Analysen zur DDR auch an einer ideologisierenden Legende zur DDR-Gesellschaft gearbeitet. Ziel ist es dabei, wie es zahlreiche westdeutsche Politiker Anfang der neunziger Jahre ausgesprochen haben, den anderen deutschen Staat zu delegitimieren. Mit dem Angriff auf das antifaschistische Erbe sollte das letzte Stück Identifikation der Ostdeutschen zerstört werden. Nichts hätte diskriminierender für sie sein können als der neuerliche Vorwurf, die DDR-Bürger hätten generell ein Problem mit ihrem Verhältnis zu den Juden gehabt. Laut Wikipedia hat die DDR die Juden als eigenständige Opfergruppe verschwiegen, während Westdeutschland auf den Aufbau guter Beziehungen zu Israel setzte. Im Medienmainstream ist die Aufarbeitung des Nationalsozialismus in der DDR angeblich 1952 beendet worden. Und im Forschungsmainstream ist die Ermordung der Juden in der DDR nach den 80er Jahren ein verschwiegenes Thema gewesen. Kaum ein Vorwurf in der medialen Debatte hat die Wut der Ostdeutschen so entfacht. In der offiziellen Darstellung ihrer Geschichte finden sie nicht nur ihre Lebensleistung oft nicht anerkannt, sondern ihre eigene Erfahrung steht nicht selten im Widerspruch zur offiziellen Geschichtserzählung. Daniela Dahn hat weitere Argumente und Belege zum angeblichen »Mythos Antifaschismus« gefunden, die in der öffentlichen Debatte weiterhin ignoriert werden.

Verordnet – aber auch überzeugt?

In der DDR gab es neben dem Blick auf verschiedene Opfergruppen, etwa in der DDR-Ausstellung der Gedenkstätte Buchenwald, eine besondere Fokussierung auf den Widerstand gegen den Faschismus. Dahn kritisiert, dass der DDR-Antifaschismus es versäumt hat, mit der Würdigung des Mutes derer, die sich den Nazis entgegengestellt haben, auch die totalitären Tendenzen der eigenen Ordnung zu kritisieren. Nach den im Vergleich zur BRD konsequenter durchgeführten Entnazifizierungsverfahren seien die Nazi-Mitläufer unter dem antifaschistischen Schirm entschuldet worden. Bedingung sei gewesen, dass sie auf ihre faschistischen Verirrungen nicht zurück kamen. Tatsächlich gab es in der DDR eine Verordnung des Antifaschismus. Sie wurde akzeptiert, wenn das nach eigener Überzeugung Richtige verordnet wurde. Und so seien die vom Antifaschismus gesetzten Tabus weitgehend eingehalten worden – nicht weniger als jedes Gesetz. Letztlich sind die antifaschistischen Verordnungen der Alliierten auch in das Grundgesetz der BRD eingegangen, etwa in den kaum noch wahrgenommenen Paragraphen 139.

Wie es um den Antifaschismus in der DDR stand, versucht Daniela Dahn mit Fakten zu belegen. So sei der Völkermord an den Juden in der DDR nicht nur früher, sondern auch häufiger aufgegriffen worden, als in der BRD. Die Ostdeutschen als duldsame und unreflektierte Herde ohne Mitgefühl darzustellen, so die Autorin, sei eine persönliche Kränkung, eine intellektuelle Demütigung, die nicht Wenige still, krank und aggressiv mache. Als 1979 der Film »Holocaust« im Westen viele Menschen beeindruckte und nachdenklich machte, habe das deutsche Publikum erstmals eine Ahnung vom Ausmaß des Leids erhalten, das den Juden zugefügt wurde. Welche ein Armutszeugnis, kommentiert Daniela Dahn. Der »DDR-Holocaust-Film« wurde bereits sieben Jahre vorher gezeigt. Er hieß »Die Bilder des Zeugen Schattmann«. Darin wird der diskriminierende Weg einer jüdischen Familie bis zur Vernichtung in Auschwitz beschrieben. Der vierteiligen Fernsehfilm basiert auf dem gleichnamigen Buch von Peter Edel, der selbst KZ-Häftling war. Der Film wurde in geringem Jahresabstand im Fernsehen wiederholt. Zur besten Sendezeit, aber auch morgens für die Schichtarbeiter und im Schulfernsehen bis letztmals 1988. Im Westberliner Tagesspiegel hieß es dazu am 25. Mai 1972 nach der Ausstrahlung des ersten Teils: »Die ungewöhnliche Quantität lässt auf eine ungewöhnliche Qualität schließen, zumindest auf ein ungewöhnliches Gewicht, das die Produzenten dem Film beilegen.« Der Film hatte nicht so eine große Resonanz wie der Film »Holocaust«. Aber das lag trotz seiner Qualität eher an einer Übersättigung der Zuschauer mit dem Thema. Denn die Auseinandersetzung mit Fragen des Antisemitismus vor 1933, mit jüdischem Leben, Judenverfolgung im Nazi-Regime und jüdischer Vergangenheit in der Gegenwart war in der DDR ein dauerhaftes Thema, durchgehend von 1947 bis 1989.

Antisemitismus in Film und Literatur

Das Filmmuseum Potsdam zählt in seiner DEFA-Schriftenreihe 2016 auf 700 Seiten eine Sammlung von 1.000 Titeln dazu auf. Die Behauptung, dass in der DDR Juden und Holocaust ein beschwiegenes und unterdrücktes Thema waren, sei schlichtweg falsch. In 14 Spielfilmen und Serien von DEFA und Fernsehen sei die Judenverfolgung zum eigentlichen Thema gemacht, in 33 weiteren Spielfilmen tangiert worden. Die Stoffe hatten fast immer authentische Hintergründe. Schon 1947 wurde im »Augenzeugen« über das einzige überlebende Kind der Berliner Jüdischen Gemeinde berichtet, 1962 über die Wiederbegegnung einer Mutter mit ihrer Tochter 17 Jahre nach ihrer Trennung in Auschwitz. In den Verlagen der DDR erschienen nach einer Bibliografie der Leiterin der Bibliothek der Jüdischen Gemeinde in Ostberlin, Renate Kirchner, 1.086 Titel zum Stichwort »Jüdisches in Publikationen aus DDR-Verlagen 1945 bis 1990«. Die Themen umfassen jüdische Geschichte, Religion, Philosophie, Lebens- und Werkbetrachtungen, Antisemitismus und Rassismus und jüdisches Leben in anderen Ländern. So unterschiedlich die Veröffentlichungen waren, ihnen könne man eine verinnerlichte humanistische Grundhaltung und einen tiefempfunden Antifaschismus nicht absprechen. Außerdem seien 238 Romane, Novellen, Erzählungen, Gedichtbände, dramatische Werke und Kinderbücher zum Thema Holocaust erschienen. Die Serie ließe sich mit einer großen Anzahl zu diesem Thema herausgegebener internationaler Literatur fortsetzen.

Auch über den Antisemitismus in der DDR, den es sehr wohl gegeben habe, bestehe ein rundweg falsches öffentliches Bild. Die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur hat die Dokumentation »Schändung jüdischer Friedhöfe« gefördert. Sie kommt in der DDR-Geschichte auf 85 Vorfälle, die ganz bestimmt 85 Schändungen zu viel sind. Sie wurden zumeist von Jugendlichen auf verwahrlosten Friedhöfen vorgenommen, für deren Erhaltung zu wenig Geld da war. Hakenkreuze waren bei solchen Aktionen selten zu sehen. Kein Erwachsener wurde zu diesem Delikt jemals verurteilt. Dieser Kontext wird gern unterschlagen. Im Vergleich dazu gab es in Westdeutschland 1.400 Übergriffe. Sie waren oftmals mit hasserfüllten antisemitischen Schmierereien verbunden, wurden nicht selten mit schwerer Technik begangen und mündeten schließlich in Sprengstoffanschlägen auf das Grab des ehemaligen Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde in Westberlin, Heinz Galinski. Antisemitische Einstellungspotentiale lagen nach einer Spiegel-Umfrage 1992 mit vier Prozent in den neuen Ländern deutlich unter dem westdeutschen Wert von 16 Prozent. Selbst vor zehn Jahren sei der Antisemitismus im Osten nur halb so stark verbreitet gewesen wie im Westen und nähere sich erst in den letzten Jahren an das gesamtdeutsche Niveau an. Ein Ergebnis des Einigungsprozesses, könnte man meinen.

Unbekannte Entschädigungen

Immer wieder wird das Thema der ausgebliebenen Entschädigungszahlungen der DDR an jüdische Opfer thematisiert. Letztlich habe jede Seite nur für die Opfer im Bereich ihrer politischen Verbündeten bezahlt, konstatiert Daniela Dahn. Die Summe der Reparationen der DDR an die Sowjetunion und Polen entspreche etwa der Höhe der Entschädigungszahlungen der BRD an Israel. Wenig bekannt sei, dass die jüdischen Überlebenden in der DDR eine andere Art der Entschädigung erhielten – mit Sozialleistungen. Das waren höhere Renten, mehr Urlaub, eigene Urlaubs- und Kurheime, bessere medizinische Betreuung, Darüber hinaus gab es Unterstützung bei Wohnungssuche, Bildungs- und Berufswegen mit Stipendien und Zulassungen. Im Nahverkehr konnten Nazi-Opfer mit einer Begleitperson kostenlos fahren. In einer Befragung des »Leo-Beck-Institutes New York« mit 60 ostdeutschen Juden zeigten diese keine Unzufriedenheit mit dieser eher am Sozialen als am Besitz orientierten Art der Entschädigung. Die fiel übrigens nach der Wende für die ostdeutschen jüdischen Opfer weg.

Zum Schluss thematisiert Daniela Dahn die Zukunft des Antifaschismus. Die heutige Zivilgesellschaft habe sich gegen die Diskreditierung, Kriminalisierung und Instrumentalisierung antifaschistischen Engagements nicht hinreichend gewehrt. Jetzt wunderten sich alle darüber, nicht mehr genügend Mittel gegen den Neofaschismus in der Hand zu haben. Antifaschisten müssten auch ihre Meinung über ein Wirtschaftssystem sagen dürfen, das Profit über das Schicksal von Menschen stelle. Aber die vordergründige Aufgabe des Antifaschismus dürfe es nicht sein, eine politische Zukunftstheorie anzubieten. Antifaschismus stehe für das Erlittene, für das nie wieder! Antifaschismus sei dafür, dass er gegen den Faschismus sei. Um das Pro sollten alle demokratischen gesellschaftlichen Kräfte konkurrieren, nicht aber um das Anti.

Daniela Dahn, Der Schnee von gestern ist die Sintflut von heute. 
Die Einheit – eine Abrechnung, 
Rowohlt-Verlag 2019, 288 Seiten, 14 Euro