Rassistische Offensive

geschrieben von Janka Kluge

6. November 2021

Eine Chronologie rassistischer Angriffe zu Anfang der 1990er Jahre – und was folgte

Die 1990er Jahre sind für viele Antifaschist_innen eng verbunden mit den Namen verschiedener Städte: Hoyerswerda, Solingen, Mölln, Mannheim, Rostock, Lübeck, Stuttgart – um nur einige zu nennen. Hier gab es in jenen Jahren rassistische Anschläge. Den rassistischen Ausschreitungen, Brandsätzen und Morden waren zwei Ereignisse vorausgegangen. Die sozialistischen Staaten waren unter dem Druck des Westens zusammengebrochen. Nationale Gruppen gründeten neue Staaten aufgrund ethnischer Zuschreibungen. In der Folge stieg die Zahl von geflüchteten Menschen. Einige von ihnen schafften es nach Deutschland und beantragten Asyl. Das zweite Ereignis war die Einverleibung der DDR durch die BRD. Mit dieser sogenannten Wiedervereinigung erstarkten neonazistische Gruppen, die von einem neuen Faschismus träumten.

Beim Nachdenken über die rassistischen Angriffe und Morde in den neunziger Jahren sind mir einige Punkte aufgefallen, die mir immer noch wichtig erscheinen. In den Medien wurde seinerzeit stark gegen Geflüchtete gehetzt. Deutschland werde von einer »Asylflut« überrollt und »überfremdet«, lauteten sinngemäß viele Schlagzeilen. Angeheizt durch die so verbreitete Stimmung, zogen Neonazis fast wöchentlich vor die Unterkünfte von Geflüchteten. Es gab kaum wahrnehmbare Stimmen, die sich dieser Hetze entgegenstellten. Dadurch kam es zu einem Phänomen, das es in der Zeit davor so nicht gegeben hatte. Ganz »normale« Bürger machten mit Nazis gemeinsame Sache. Sie zogen ebenso zu den Unterkünften der Geflüchteten und randalierten zusammen. Nach den Angriffen in Hoyerswerda im September 1991 evakuierten die Behörden die Unterkunft und verlegten die Geflüchteten in andere Unterkünfte in der Region. In besorgniserregender Tradition von NS-Politik erklärten Nazis danach die Stadt zur »ersten ausländerfreien Stadt Deutschlands«. Der rechte Erfolg im Falle von Hoyerswerda stachelte andere Gruppen dazu an, ebenfalls mit Gewalt und Brandbomben gegen Migranten und Geflüchtete vorzugehen.

Am 17. September 1991 attackierte ein rassistischer Mob im sächsischen Hoyerswerda ein Wohnheim für frühere DDR-Vertragsarbeiter:innen, die Polizei lässt die Angreifer tagelang gewähren. Foto: Gerd Fügert

Am 17. September 1991 attackierte ein rassistischer Mob im sächsischen Hoyerswerda ein Wohnheim für frühere DDR-Vertragsarbeiter:innen, die Polizei lässt die Angreifer tagelang gewähren. Foto: Gerd Fügert

Nur durch Glück kam es bei Ausschreitungen im Mannheimer Stadtteil Schönau Ende Mai bis Anfang Juni 1992 »nur« zu Verletzten. Über Tage zogen mehr als 100 Menschen vor die Zentrale Aufnahmestelle und brüllten rassistische Parolen (siehe Marginalie). Weil sich jeden Abend aufs Neue der Mob vor der Unterkunft in Mannheim versammelte, hielten am 2. Juni Mitglieder von Pro Asyl dagegen und stellten sich schützend vor das Flüchtlingsheim. Ihr Transparent »Weg mit dem rassistischen Bürgermob« fasste die Stimmung vieler Antifaschist_innen zusammen. Die Gegendemonstrant_innen in Mannheim machten eine Erfahrung, die sich auch später wiederholen sollte. Die Polizei ging gegen die Linken vor und machte den Rechten den Weg frei. Bei einer Großdemo gegen Rassismus eine gute Woche später ging die Polizei erneut mit großer Brutalität gegen die Teilnehmer_innen vor.

Dann der August 1992 in Rostock-Lichtenhagen. Wieder hatten große Teile der Medien als Einheizer gedient. Die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber im Rostocker Sonnenblumenhaus wurde über Tage von bis zu 3.000 Menschen belagert. Die Menschen klatschten bei jedem Brandsatz, der gegen das Gebäude geworfen wurde, Beifall. In einer extra aufgestellten Imbissbude konnten sich die Randalierer mit Bier und Würstchen versorgen. Aus ganz Norddeutschland kamen organisierte Nazis nach Rostock. Die Polizei war angeblich überfordert und ließ sie gewähren. Sie setzte nicht durch, dass Krankenwagen oder die Feuerwehr an das Haus gelangen konnten. Stattdessen gingen sie mit brutaler Gewalt gegen Antifaschist_innen vor, die aus Hamburg und Berlin nach Rostock gekommen waren, um sich den Nazis entgegenzustellen.

Am 23. November steckten Nazis in Mölln zwei Wohnhäuser in Brand, die von türkischen Menschen bewohnt waren. Im Haus, das zuerst attackiert wurde, gab es neun zum Teil schwer verletzte Menschen, im zweiten starben zwei Mädchen und ihre Großmutter. Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) lehnte mit der Begründung, er wolle keinen »Mitleids-tourismus«, die Teilnahme an einer Gedenkfeier ab.

Trauriger Höhepunkt dieser Entwicklung war dann der 29. Mai 1993 in Solingen. Bei einem Brandanschlag auf ein Haus, das von einer türkischen Familie bewohnt wurde, kamen fünf Menschen ums Leben. Bei Ermittlungen stellte sich heraus, dass zwei der vier Tatverdächtigen Kontakt zu einem V-Mann des Verfassungsschutzes hatten. Leider hat sich die Politik von den Nazis immer wieder treiben lassen und im folgenden unter dem Eindruck der Pogrome das Asylrecht massiv eingeschränkt. Auch das gehört zu der Geschichte.

Auslöser der rassistischen Angriffe 1992 in Mannheim-Schönau war ein Gerücht, wonach eine Sechzehnjährige von einem Geflüchteten aus Afrika vergewaltigt worden sei. Später stellte sich heraus, dass sie ihr Freund, ein US-amerikanischer Soldat, vergewaltigt hatte. Er hatte sich bei der Vernehmung als Geflüchteter ausgegeben.

Siehe auch die Rezension des Buches »Kinder von Hoy« im Kulturteil dieser Ausgabe (Seite 30)