Vergeltung und Fantasie

13. Mai 2022

Interview mit Max Czollek zur Ausstellung über jüdische Rache

antifa: Es hält sich das Bild von Jüdinnen und Juden, die den Holocaust  überwiegend erduldet haben. Nur einige wenige, so das vorherrschende Verständnis, haben Widerstand geleistet. Von Racheakten nach dem Krieg ist hier noch weniger bekannt. Worum geht es bei der Rache-Ausstellung?

Max Czollek: Wir machen ein Angebot, sich mit der Geschichte anders auseinanderzusetzen und fangen historisch viel früher an. Die Geschichte des Judentums ist auch geprägt von der Idee, dass Verfolgung nicht einfach hingenommen wird. Die Jahrtausende anhaltende Diskriminierungsgeschichte erforderte immer wieder neue Strategien, mit den eigenen Erfahrungen umzugehen und Handlungsmacht zurückzugewinnen. Schon die Torah kennt Formen legitimer Rache, die dazu dient, Gerechtigkeit wieder herzustellen, wenn das irdische Recht versagt. Neben den religiösen Aspekten stellen wir zudem den Bezug zu tatsächlichen Momenten der Selbstbehauptung her. Im Kontext feindlicher Umgebungen organisierten sich jüdische »Gesetzlose« als Pirat*innen, Räuber*innen oder später als »Kosher Nostra« –
als Gangs an der US-Ostküste –, um faktisch Vergeltung an der sie missachtenden Dominanzgesellschaft zu üben.

Die Vergeltung während und nach dem Nationalsozialismus baut darauf ideengeschichtlich auf. Die wohl bekannteste Gruppe war Nakam (»Rache«), gegründet vom litauischen Partisanen und späteren Schriftsteller Abba Kovner. Nakam plante 1945 die Vergiftung der öffentlichen Wasserversorgung in mehreren deutschen Großstädten, was aber missglückte. Und die Jewish Brigades waren mit rund 30.000 Freiwilligen seit 1944 Teil der britischen Armee und entführten, vernahmen und richteten Nazis nach Kriegsende hin. Oder wer weiß schon noch etwas von dem gescheiterten Attentat auf Konrad Adenauer 1952, das als unmittelbare Reaktion auf die Aussöhnungsversuche zwischen der BRD und Israel verübt wurde?

antifa: Wieso sind solche Geschichten keiner größeren Öffentlichkeit bekannt? Wieso ist eure weltweit die erste Ausstellung zur Kulturgeschichte jüdischer Rache?

Max Czollek: Ja, das ist auch darum verwunderlich, weil ich gemeinsam mit vielen aus meiner Generation mit diesen familiären Geschichten über das unendliche Leid und zugleich mit der Wut und den Rachefantasien gegen die Faschist*innen aufgewachsen bin. Versöhnung kam weder für unsere Elterngeneration noch für uns infrage. Gleichzeitig wurde in Ost wie West von den Nachkommen der Shoah und Juden und Jüdinnen im Allgemeinen erwartet, dass sie die symbolischen Gesten der Trauer und Versöhnung pflichtschuldig vollziehen. Dabei war schon früh klar, dass das offizielle Gedenken auch eine Ersatzhandlung für tatsächliche Aufarbeitung war, eingerichtet, um die Schuldigen und ihre Nachfahren zu entlasten. Auf dieser Basis ist eine Wiederholung der Geschichte nicht ausgeschlossen. Und da sollten Juden und Jüdinnen nicht mitspielen. Außerdem liegt das Thema der Unversöhnlichkeit gewissermaßen in der Luft. Letztes Jahr hat ein bayerisch-israelisches Team die Geschichte der Nakam (»Plan A«) verfilmt. Die Chefhistorikerin von Yad Vaschem, Dina Porat, hat ebenfalls ein Buch über die Rächer*innengruppe um Aba Kovner verfasst, das auf Deutsch erschienen ist. Und auch der Journalist Achim Doerfer hat ein Buch zur Rache als Konsequenz aus dem Versagen des Rechtssystems nach 1945 veröffentlicht. Das ist sicherlich auch Ausdruck einer anderen Gegenwart, in der Juden und Jüdinnen nach Selbstverständigung und Selbstverständnis suchen.

antifa: Wie seid ihr an die Ausstellung rangegangen?

Max Czollek: Auch ästhetisch. Eine große Rolle spielt die popkulturelle Verhandlung des Themas, beispielsweise in Kinofilmen wie »Inglourious Basterds«, aber auch in Superhelden-Comics, weil sie andere Zugänge ermöglichen. Diese können wie eine Art Ventil dafür dienen, Rache auszudrücken und gleichzeitig einen Weg aufzuzeigen, wie das Bedürfnis nach Selbstermächtigung zwar erfüllt, aber seine zerstörerische Kraft eingehegt werden kann.

Letztlich ist die Ausstellung auch das Ergebnis von Arbeiten, die schon 2016 mit dem »Desintegrations-Kongress« am Berliner Gorki-Theater, das sich als »postmigrantisch« versteht, begannen. Die Idee dieser postmigrantischen Haltung ist, dass wir gar nicht erst versuchen, für unsere Perspektive bei dem nicht migrantischen Publikum zu werben, sondern eine eigene Plattform schaffen, um unsere Geschichten zu erzählen. Da geht es dann nicht nur um Juden und Jüdinnen in Deutschland, sondern auch viele andere Menschen, die hier Diskriminierung erfahren. Das Reden über Rache und auch Militanz findet im Windschatten des allgemeinen Aufbegehrens (z. B. durch Black Lives Matter) gegen den Wahn der Integration und Leitkultur statt. Wir schließen dabei niemanden aus, sondern laden dazu ein, sich die Trümmer und Verletzungen der anderen anzuhören und zu begreifen, dass ein breiterer Blick auf das, was Gesellschaft beinhaltet, nötig ist, um die Geschichte nicht zu wiederholen.

Rache. Geschichte und Fantasie. Von Erik Riedel und Janis Lutz, Mirjam Wenzel und Max Czollek. Bis mindestens 17.7.2022 im Jüdischen Museum Frankfurt. Mit umfangreichem Begleitprogramm aus Podcasts, einer Filmreihe, Vortragsveranstaltungen und einem Sommerfestival. Der Katalog zur Ausstellung ist erschienen bei Hanser, 174 Seiten, 26 Euro.

Achim Doerfer: Irgendjemand musste die Täter ja bestrafen. Die Rache der Juden, das Versagen der deutschen Justiz nach 1945 und das Märchen deutsch-jüdischer Versöhnung. Kiwi, Köln 2021, 368 Seiten, 24 Euro

»Plan A – was würdest du tun?«, Regie: Yoav and Doron Paz, 2021, 110 min

Dina Porat: »Die Rache ist Mein allein«. Vergeltung für die Shoa: Abba Kovners Organisation Nakam. Ferdinand Schöningh, Paderborn 2021, 394 Seiten, 39,90 Euro

Das Interview führten Nils Becker und Emma Sammet