Ethische Grundlagen für Protest
1. November 2024
Interview mit Rolf Meyer, Sprecher der »Letzten Generation« zur steigenden Repression
antifa: Die »Letzte Generation« ist mit Aktionen des zivilen Ungehorsams präsent. Euch geht es um die Erzwingung politischer Maßnahmen zur Einhaltung der Ziele des Pariser Klimaschutzabkommens (1,5-Grad-Ziel). Schon vor zwei Jahren wurden Aktivist*innen von euch in Bayern für mehrere Wochen in Präventivhaft genommen. Im vorigen Jahr wurden Personen zu mehreren Monaten Haft ohne Bewährung wegen »versuchter Nötigung« verurteilt. In diesem Jahr stieg die Länge der Haftstrafen auf über ein Jahr. Wie ist eure Analyse zum Anziehen der Repression gegen Klimaschutzaktivist*innen?
Rolf Meyer: Wir erheben die Verfahren, die Gewalt und polizeilichen Maßnahmen gegen uns nicht strukturiert. Das ist auch sehr unterschiedlich. In Berlin, Hamburg und NRW beispielsweise wird schon verhindert, sobald wir unsere Versammulng irgendwo beginnen, und viele von uns werden durch Spezialgriffe verletzt. In Bremen wurde dagegen sogar schon vorab der Verkehr abgeleitet und eine unterstützende Situation hergestellt. Niedersachsen war ähnlich ermöglichend. In Bayern ist die Polizei sehr kontrolliert und wenig gewalttätig.
Bei unserer aktuellen zweieinhalbwöchigen Protestphase in Kassel hatte das Land Hessen permanent 400 Beamte im Einsatz. Von außen muss das sehr martialisch ausgesehen haben, wenn gegen 40 Protestierende 20 Mannschaftswagen auffahren. Hin und wieder äußerte sich der Innenminister abfällig über die Proteste. Parallel gab es »smarte Repression« gegen den Bürgermeister von Kassel, OB Sven Schoeller, weil er mit uns diskutiert hatte.
Bei Anklagen unterscheiden sich die Tatbestände und die Rechtsprechung je nach Ort. In Berlin wird »Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte« angeklagt, sobald eine Hand angeklebt war. Diese Protestform wenden wir seit Ende 2023 nur noch an Orten der Ungerechtigkeit, wie Flughäfen, an. Der Vorwurf der Nötigung und die Frage, ob eine vom Versammlungsrecht geschützte Aktion stattgefunden hat, wird von Gerichten unterschiedlich bewertet. Das führt zu einem Spektrum von Freispruch bis zu Freiheitsstrafen. Die Kriminalisierung differenziert sich aus und knüpft deutlich an die Kampagnen der Springer-Presse an.
Die Repression verstärkt das Dilemma vieler Unterstützer*innen, das Thema nicht weiter verdrängen zu wollen und gleichzeitig auch nicht bei unseren Protesten in den Strudel der Repression zu geraten. Da wir mit allen gesellschaftlichen Akteuren auch Vernetzungsgespräche führen, wissen wir, dass unsere inhaltliche Kompetenz, Klarheit, Entschlossenheit und unser gewaltfreies, würdevolles Protestformat uns einen stabilen Ruf einbringen.
antifa: In Großbritannien ist dieses Jahr eine ganze Gruppe von Aktivist*innen wegen »Verschwörung mit dem Ziel, eine öffentliche Belästigung herbeizuführen«, zu mehrjährigen Strafen verurteilt worden. Dafür wurde extra dieser neue Straftatbestand geschaffen. Auch in Deutschland gibt es Bestrebungen, Gesetze gegen zivilen Ungehorsam zu verschärfen. Worauf sollten wir uns einstellen?
R. M.: Die erste Klage wegen Straßenblockaden ist jetzt beim Bundesverfassungsgericht eingereicht. Wir sind absolut gewaltfrei und menschenfreundlich unterwegs. Einerseits führt diese Entschlossenheit zu einer Haltung, die durch härteres Vorgehen gegen uns noch aufgewertet wird. Die Bevölkerung goutiert die Repression gegen friedliche Menschen kaum. Bleiben noch die Medien. Der Pegel an Absurdität der Fossilen-Industrie-Lobby und konservativen Akteure steigt, was aber auch neue Orte für Proteste erschließen kann. Die Klimakatastrophe ist für alle sichtbar, sogar am Urlaubsort eskaliert sie. Wie sich dieser Mix an »Störfaktoren« im täglichen Weiterso des ungerechten fossil-industriellen Wahnsinns auswirkt, bleibt spannend.
antifa: Euch gibt es seit 2021. Inwieweit wart ihr erfolgreich mit eurem Vorhaben, dem Thema mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen? Denn mittlerweile geht die Diskussion der Klimagerechtigkeitsbewegung eher weg vom konfliktreichen, aber folgenlosen Appellieren hin zu solidarischen Praxen im Klimakollaps.
R. M.: Seit 2021 sind Kipppunkte, Extremwetter und die Gewissheit, dass es so nicht weitergehen kann, ins Bewusstsein gerückt. Wir brauchen uns nichts vorzumachen, die Protestform ist anstrengend, und aufwendig zu organisieren. Wie eine Ausdifferenzierung und einzelne Leuchtturmproteste oder eine flächendeckende Protestform aussehen können, lässt sich nur im Schritt-für-Schritt-Modus festlegen und muss auch überraschend bleiben. Aber unser Protestkonsens bleibt und erzeugt eine verlässliche, klare, weit sichtbare, offene unterstützende Community.
Im Fokus stehen immer Gerechtigkeit auf der einen und die Zerstörung des Lebens, in klarer Zuspitzung auf Orte und Akteure, auf der anderen Seite. Diese Akteure zu konfrontieren, öffentlich und in Vernetzungsgesprächen, ist ein breitbandiger Ansatz. Erweitert könnte die Resilienz- und Community-Bildung in Protestgemeinschaften eingebracht werden. Entscheidend werden Protestbündnisse sein, die sich auf nachvollziehbare ethische Grundlagen beziehen und eigene Protestformen entwickeln.
Mehr Information zur »Letzten Generation« unter letztegeneration.org
Lesetipp:
Tadzio Müller: Zwischen friedlicher Sabotage und Kollaps. Wie ich lernte, die Zukunft wieder zu lieben. Mandelbaum-Verlag, 2024, 310 Seiten, 18 Euro
Das Gespräch führte Nils Becker.