Passive Opfer?

geschrieben von Bernd Hüttner

12. März 2025

Sammelband zu einer Tagung über jüdischen Widerstand in Europa in der Nazizeit

Juden und Jüdinnen werden von vielen, wenn es um die Shoah geht, bis heute angesichts des geplanten industriellen Mordens der Nazis in erster Linie als passive Opfer gesehen. Es gab jedoch jüdischen Widerstand, und zwar in verschiedenen Formen, und das vor allem in Osteuropa.

Dies wird nun erst langsam ein Thema in der Literatur und der Öffentlichkeit. Der vorliegende Band beleuchtet viele Facetten, und auch unterschiedliche Begriffe von Widerstand – und wirft die Frage auf, was »Widerstand« oder »Renitenz« unter den damaligen Bedingungen überhaupt war oder sein konnte. Die insgesamt elf Beiträge resultieren aus der Tagung »Jüdischer Widerstand in Europa. Grundlagen, Formen, Netzwerke« an der TU Chemnitz im Januar 2023.

Anika Walke berichtet von Jüdinnen, die in den besetzten sowjetischen Gebieten bei den Partisanen lebten und kämpften. Franziska Bruder erzählt detailliert von der Geschichte des Aufstandes im Vernichtungslager Sobibor am 14. Oktober 1943. Geschätzt 300 Gefangene konnten ausbrechen, circa 60 von ihnen erlebten das Ende der deutschen Besatzung ein Jahr später. Ihre Aussagen bildeten die Grundlagen des historischen Wissens über das Vernichtungslager, und wurden auch in Gerichtsprozessen gegen Täter aus dem Wachpersonal verwendet.

Frédéric Crahay (Vorsitzender der Fondation Auschwitz in Brüssel) beschreibt, wie ab Sommer 1940 durch die Fälschung von Papieren und andere Aktivitäten illegaler Netzwerke in Belgien Juden und Jüdinnen, darunter sehr viele Kinder, versteckt und vor der Vernichtung gerettet werden konnten. Belgien wurde im September 1944 befreit. Der Widerstand in Rumänien hing eng mit der grundsätzlichen politischen Entwicklung des Landes sowie seiner Außen- und Bündnispolitik zusammen. Über 250.000 der rumänischen Juden und Jüdinnen wurden ermordet, für viele in den Lagern in Transnistrien konnte aber Hilfe aus dem Ausland, etwa durch Lebensmittelpakete organisiert werden. Sehr interessant ist auch der Beitrag von Anne Lepper, die über die Aktivitäten von in der Schweiz ansässigen jüdischen Einzelpersonen und Organisationen schreibt. Diese nahmen Nachrichten entgegen und gaben sie international weiter, sie organisierten Hilfslieferungen und vieles andere mehr.

Frank-Lothar Kroll/Stephan Lehn-staedt (Hg.): Jüdischer Widerstand in Europa. Grundlagen, Formen, Netzwerke. Bebra Verlag, Berlin 2025, 232 Seiten, 36 Euro

Frank-Lothar Kroll/Stephan Lehn-staedt (Hg.): Jüdischer Widerstand in Europa. Grundlagen, Formen, Netzwerke. Bebra Verlag, Berlin 2025, 232 Seiten, 36 Euro

Frappierend, wenn nicht schockierend ist, und das zeigt auch der Beitrag von Miriam Chorley-Schulz, dass es ab 1941 unter den (jüdischen) Hilfsnetzwerken in der Schweiz eine »bemerkenswert genaue Vorstellung davon (gab), was sich in den von Deutschland beherrschten Gebieten abspielte« (S. 136). Ein Ziel war es, und dies nennt Chorley-Schulz ebenfalls, Dokumente für die Nachkriegszeit zu schaffen und zu bewahren; Dokumente, die bei einer Strafverfolgung der Täter nützlich sein würden. Sie berichtet in ihrem sehr dichten Beitrag über die Aktivitäten jüdischer Intellektueller und Historiker, praktisch vom ersten Tag an, in Ostpolen also bereits ab Ende 1939, die Vertreibung, Entrechtung und schließlich Ghettoisierung und Ermordung der Juden und Jüdinnen, sozusagen in Echtzeit, zu dokumentieren – und dieses Wissen auch weiterzugeben.

Die beeindruckende Publikation bietet viele Erkenntnisse sowie eine Vielzahl an Namen und Literatur, ein Namensverzeichnis gibt es jedoch nicht. Von Mitherausgeber Lehnstaedt ist mit »Der vergessene Widerstand« für Mitte März eine weitere Publikation zum Themenfeld angekündigt.

Das Tagungsprogramm unter:
hsozkult.de/event/id/event-131831