Am Rande größerer Kriege

22. Januar 2015

antifa-Gespräch mit Wolfgang Gehrcke über die Lage in der Ukraine

 

antifa: In der Ukraine herrscht Krieg und ein Zusammenleben wie bisher wird in diesem Land nicht mehr möglich sein. So könnte man verknappt zwei wesentliche Erfahrungen zusammenfassen, die ihr von eurer Reise mitgebracht habt. Ist diese Einschätzung nicht sehr hart?

Wolfgang Gehrcke: Ich hoffe sehr, dass wir uns irren. Doch wir haben mit vielen Menschen nicht nur in der Ostukraine, sondern auch in Kiew und der Westukraine gesprochen. Dort lebt man in der Illusion, dass die Ukraine jetzt nach dem Wechsel in Europa willkommen ist – und Europa heißt für sie EU. Diese Illusion wollen sie sich nicht nehmen lassen. Von beiden Seiten kam wiederholt das Signal, dass man nicht mehr in der alten Weise miteinander leben wolle. Das ist in der Tat eine harte Feststellung, aber auf beiden Seiten hat sich Hass augetürmt, die Menschen vor allem in der Ostukraine haben auch Schlimmstes erlebt. Die Großstadt Donezk liegt in Trümmern und ich weiß nicht, ob es unter solchen Bedingungen noch eine Friedensmediation geben kann.

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antifa: Welche friedliche Lösung wäre denn vorstellbar, wenn man sagt, die alte Form der staatlichen Einheit kann es nicht mehr geben?

Wolfgang Gehrcke: Mathias Platzeck ist mit seinem Vorstoß die Krim betreffend schon auf dem richtigen Weg gewesen. Die Aufregung darüber sagt nur etwas über den Zustand unserer Gesellschaft aus, nicht über die Qualität seines Vorschlags. Eine Föderation wäre das Mindeste, was angesteuert werden muss. Eine Föderation, in der die Ostukraine einen hohen Raum an Selbstbestimmung erhält. Außer der Außenpolitik und der Währungspolitik, die in Kiew bleiben müssten, könnten alle anderen Bereiche besonders geregelt werden. Es kann aber sein, dass eigentlich auch Poroschenko die alte -Ukraine nicht mehr will und schon dabei ist, die Ost-ukraine abzustoßen, denn die Wiederherstellung der sozialen Bedingungen und der Wiederaufbau werden ungeheuer viel Geld kosten. Dass Kiew in der Ostukraine keine Renten mehr zahlt, ist ein Zeichen dafür und so hat man das dort auch verstanden. Wenn man über die Perspektive der Ukraine nachdenkt, muss man realistische Lösungen anstreben. Das sind solche, die die Gefühle der Menschen mit berücksichtigen. Eine Reihe unserer Gesprächspartner haben uns gesagt: »Wir sind Russen und möchten auch als Russen leben. »Egal, wie man persönlich dazu steht, solchen Dingen muss man Rechnung tragen. Deutschland sollte mehr darüber nachdenken, welche Vorschläge man unterbreiten könnte, doch entscheiden müssen das die beteiligten Menschen selbst.

antifa: Wird die denn jetzt überhaupt noch jemand fragen?

Wolfgang Gehrcke: Ich glaube, man hat begriffen, dass man gar nicht darum herum kommt. Das ist ja das Interessante. Der belorussische Präsident, der hier im Westen als Unperson galt, tritt jetzt als Vermittler auf und man ist dankbar dafür. Man muss suchen, was geht und was nicht geht und ich hoffe, dass auch mit internationaler Hilfe ein Weg zum Frieden gefunden wird, denn die Menschen leiden unendlich. Der Winter kommt und die Städte sind zerschossen.

antifa: Können wir von hier aus etwas für sie tun?

Wolfgang Gehrcke: In Donezk und Lugansk fehlt es an allem: Lebensmittel, Wasser, Strom, Heizmaterial, Medikamente. Viele Wintertote sind zu befürchten. Auch dem größten Kinderkrankenhaus in Donezk, Gorlovka, gehen die Medikamente aus. Wir haben deshalb eine private Spendenkampagne initiiert, um wenigstens die in dieser Klinik dringend benötigten Medikamente nach Donezk zu bringen. Darüber hinaus bin ich für ein westeuropäisches EU-Hilfsprogramm für die Ukraine – allerdings unter der Bedingung, dass das Geld nicht in die Taschen der Oligarchen fließt und dass die Oligarchen mit verpflichtet werden, für die Finanzierung der Ukraine aufzukommen, denn sie haben das Land unter jeder bisherigen Regierung schamlos ausgeplündert. Das ist übrigens auch Putins Problem. Unter Putin sind die Oligarchen ausgewechselt worden, doch es sind immer noch Oligarchen. Da findet man so tolle Umschreibungen, wie »Poroschenko der Schokoladenoligarch«, dabei hat der sein Geld mit Rüstungsindustrie verdient.

Wolfgang Gehrcke und Andrej Hunko besuchen in Tagangrog im Flüchtlingslager für Menschen aus Donbass eine Schule. Foto: Die Linke

Wolfgang Gehrcke und Andrej Hunko besuchen in Tagangrog im Flüchtlingslager für Menschen aus Donbass eine Schule. Foto: Die Linke

antifa: Seit vielen Jahren treffe ich mich mit russischen und ukrainischen Jüdinnen, die hier im Exil leben. Jetzt sind auch ihre Sichten plötzlich gespalten in russische und ukrainische, je nachdem, woher sie einmal gekommen sind. Mich erinnert das an die Situation im früheren Jugoslawien, als plötzlich wie von selbst Hass unter Völkern ausbrach, die lange friedlich miteinander gelebt hatten. Siehst du diese Parallelen auch?

Wolfgang Gehrcke: Jugoslawien war eine gewisse Blaupause für das, was jetzt passiert. Die geostrategische Absicht der USA war seit langem erkennbar, sie ging davon aus, wer die Ukraine hat, beherrscht Russland. Das hat länger gedauert, im ersten Anlauf konnten sie es nicht durchsetzen, doch sie sind dem näher gekommen. Die Ukraine als staatliches Gebilde ist heute Teil des westlichen Spektrums geworden. Russland ist dadurch in einer schwierigen Lage, die Menschen erwarten ja auch etwas von ihm. Wenn sie sagen »Ich bin Russe und will Russe bleiben«, heißt das, Russland trägt dafür auch eine gewisse Verantwortung. Die russische Verantwortung besteht für mich heute vor allem darin, mit dazu beizutragen, dass Europa nicht noch weiter in Richtung eines Krieges driftet. Unsere Feststellung »In der Ukraine herrscht Krieg.«, meinen wir sehr ernst. Im Osten ist es ein offener Krieg, in den anderen Bereichen herrscht ein verdeckter Krieg, ein Krieg der Worte, der Verachtung, des politischen und wirtschaftlichen Drucks. Alles wird mit dem Krieg begründet, doch wenn es jetzt keine Umkehr gibt, wird er das Land zerstören. Umkehr heißt aus meiner Sicht, dass die ukrainische Armee nicht länger in Osten eingesetzt werden darf. Und diese Freiwilligenbataillone sind faschistische Mörderbanden – die müssen unbedingt entwaffnet werden.

antifa: Aber danach sieht es im Augenblick nicht aus.

Wolfgang Gehrcke: Deshalb müssen die Menschen außerhalb des Landes, die eine Vorstellung davon haben, wie man den Krieg aus Europa verbannen kann, alle Kontakte nutzen und so viel Druck auf die ukrainische Politik ausüben, dass ein Mindestmaß an Vernunft einzieht. Das wäre zum Beispiel die deutsche Verantwortung, die bisher überhaupt nicht wahrgenommen wird. Dass wir jetzt, im 25. Jahr nach dem Fall der Mauer, am Rande eines Krieges in Europa stehen, das erschreckt mich.

antifa: Wie schätzen die Ukrainer selbst die Lage ein?

Wolfgang Gehrcke: Wir haben in der Ukraine sehr viele Gespräche geführt, natürlich auch mit Vertretern der ukrainischen Linken, und das waren keine einfachen Gespräche. Angefangen mit einem Teil der undogmatischen Linken, vor allem Anarchisten, die uns für Kremlverbrecher gehalten haben, über die Kommunisten, die sich ganz schwer tun, unter dem Druck eines Verbotsverfahrens und mehrfach gespalten, zu einer nüchternen Lageeinschätzung zu gelangen. Mit Menschen, die vor dem Verbot ihrer Partei stehen, braucht man ohnehin mehr Zeit zum Reden als wir hatten, aber eins ist klar: das Paktieren der Partei mit den Janukowitschleuten, also den Oligarchen, hat der Partei unendlich geschadet. Trotzdem wäre es wichtig, dass in der Ukraine wieder eine Linke entsteht, sonst wird, wenn es mit den wirtschaftlichen Verwerfungen so weiter geht, die wachsende Not die Rechtsentwicklung noch mehr verschärfen. Wir haben in Odessa auch mit einem führenden Mann der Udar-Partei gesprochen, das ist die Klitschko-Partei, die von der Adenauerstiftung aufgebaut wurde. Dessen Aussage war für mich sehr deutlich. Er meinte, die Ermordung von mehr 100 Menschen vor dem Gewerkschaftshaus wäre notwendig gewesen, um ein Zeichen zu setzen, dass in Odessa nicht zugelassen wird, was vorher zum Beispiel in Donezk geschehen war. Es handelte sich also keineswegs um das zufällige Zusammentreffen verfeindeter Demonstrationen, wie die offizielle Lesart glauben machen wollte, sondern um einen bewussten Terrorakt. In dieser Stadt, mit ihrer wunderbaren, von vielen Völkerschaften geprägten Kultur, wurden bei einem Massaker über hundert Menschen erschlagen, erstickt und von Scharfschützen abgeknallt. Auch das meinen wir mit dem Satz, dass in der Ukraine Krieg herrscht. Wenn ich ein Bild dafür finden sollte, wie ich die heutige Ukraine wahrgenommen habe, dann ist es das Bild des Platzes vor dem Gewerkschaftshaus in Odessa. Andrej Hunko und ich wollten dort einen Kranz niederlegen, auch deshalb, weil Steinmeier dies, dem Wunsch des Gouverneurs entsprechend, unterlassen hatte. Wir kamen morgens dorthin, es war schrecklich kalt- und damit meine ich nicht nur die äußeren Temperaturen- viele Blumen lagen dort und man hatte Tafeln aufgestellt mit den Bildern der Erschlagenen. In der Nacht aber waren die Bilder aus den Befestigungen gerissen, auf die Erde geschmissen und zertrampelt worden. Das ist für mich das Bild der heutigen Ukraine: die zertrampelten Tafeln für die toten Opfer. Natürlich stimmt einen das furchtbar traurig.

antifa: Noch einmal zurück zur deutschen Politik. Warum bleibt sie Deiner Meinung nach so weit hinter dem zurück, was notwendig wäre?

Wolfgang Gehrcke: Für die deutsche Politik gibt, zumindest im Osten der Ukraine, niemand ein Stück trocken Brot. Wie sich die Deutschen so gemein benehmen können, wo die Russen ihnen doch die Vereinigung gegeben haben, ist vielen unbegreiflich. Doch ich bin sicher, dass die Bundeskanzlerin weiß, was sie tut. Sie geht für ihren Kurs sogar ein hohes Risiko ein und konfrontiert sich mit den »Alten« ihrer Partei von Helmut Kohl bis Roman Herzog, die ihre Russlandpolitik offen verurteilen. Nach meiner Auffassung ist jetzt der Punkt gekommen, wo man sich entscheiden muss. Zwischen den USA und der EU gibt es in Bezug auf die Ukraine strategische Differenzen, die zeigen sich auch in der NATO. Die deutsche Politik müsste nun Farbe bekennen und sagen: »Wir brauchen ein anderes, ein besseres Verhältnis zu Russland. Wenn die USA das nicht wollen, bedauern wir das, doch wir werden alles tun, um es in Gang zu setzen.« Genau das raten alle vernünftigen Leute der Kanzlerin, doch genau dazu ist sie nicht bereit.