Mélenchon und Mouffe

geschrieben von Thomas Willms

14. Juli 2017

Über populistische Programmatiken in Frankreichs FI – Von Thomas Willms

Die Wählerinnen und Wähler Frankreichs haben in den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen das politische System Frankreichs de facto abgewählt ohne es formal abzuschaffen. Die die 5. Republik dominierenden und sich an der Macht abwechselnden konservativen und sozialistischen (sprich sozialdemokratischen) Kräfte haben eine katastrophale Niederlage erlitten. Regiert wird das Land nun von einem Präsidenten Emmanuel Macron, der eine Partei hat, die bis einen Tag nach den Präsidentschaftswahlen gar keine war, sondern nur eine »Vorwärts-«Bewegung (»En Marche«). Außer mittels weitreichender eigener Befugnisse kann Macron seine Ziele im Parlament über eine absolute Mehrheit seiner Partei »La République en Marche« von 308 der 566 Sitze verwirklichen. Diese Parlamentarier sind überwiegend ohne jede parlamentarische Erfahrung.

Das Programm der >>France Isoumine<<. L'avenir en commun. Le programme de la France insoumise et son candidat Jean-Luc Mélenchon

Das Programm der >>France Isoumine<<. L’avenir en commun. Le programme de la France insoumise et son candidat Jean-Luc Mélenchon

Der Verzicht auf klare inhaltliche Aussagen hat diesen Sieg offenbar nicht verhindert, sondern ermöglicht. Sicher ist, dass die Wähler einen jungen Mann an die Macht gebracht haben, von dem man sagen kann, dass er gut aussieht und eine kluge ältere Frau geheiratet hat. Wofür er darüber hinaus eigentlich steht, scheint den Wählern nicht so wichtig gewesen zu sein: Hauptsache weg mit dem Alten. Macron kann, was die politischen Strukturen angeht, also eigentlich machen was er will. Eine Grundsatzentscheidung pro Europäischer Union ist immerhin gefallen – vorerst.

Der dann doch deutliche Sieg Macrons hat schon fast vergessen gemacht, wie nahe Marine Le Pen an der Präsidentschaft war. 34% stimmten im entscheidenden zweiten Wahlgang für die Frontfrau des Front National (FN), eine nie dagewesene Machtdemonstration der französischen extremen Rechten. Im ersten Wahlgang tat sich jedoch überraschend mit »France Insoumise« (FI) auch eine Bewegung von Links hervor, und lag nur knapp hinter dem FN. Die »Nationale Front« und »Das aufständische Frankreich« erreichten zusammen über 40%. »Halt!« wird man rufen – was heißt hier »zusammen«? Man kann doch nicht Stimmen für Links und Rechts einfach addieren!

 

Die FI – eine linke Bewegung?

Immerhin ist die FI der bevorzugte französische Partnerverband der Partei »Die Linke«. -Katja Kipping und Bernd Riexinger hatten dem Spitzenkandidaten im Vorfeld alles Gute gewünscht: »Wir wünschen Jean-Luc Mélenchon am Sonntag viel Erfolg. Jede Stimme für den linken Präsidentschaftskandidaten ist eine Stimme gegen Rassismus, Nationalismus, soziale Ungleichheit und Homophobie… Jean-Luc Mélenchon spricht eine Sprache, in der sich jemand wiedererkennt, der ausgeschlossen ist. Er will diesen Menschen klarmachen, dass nicht andere ›Randgruppen‹ ihre Gegner sind, sondern die Reichen, die Finanzwelt und die soziale Ungerechtigkeit.«

Besonders eng ist Mélenchons Verhältnis seit längerem zu Oskar Lafontaine. Beider Weg führte aus den Führungskreisen der Sozialdemokratie in die Linksopposition. Beide sind begnadete Redner, Mélenchon sogar ein echter Überzeuger der Massen auf der Straße. Das alles spricht die Linken-Spitzenkandidatin Sarah Wagenknecht wenig überraschend stark an. Sie schrieb nach dem ersten Wahlgang, Mélenchon zu seinem »grandiosen Ergebnis« gratulierend, »dass mit konsequent linken Positionen, deutlicher EU-Kritik und dem couragierten Eintreten für soziale Gerechtigkeit in Frankreich und Europa fast ein Fünftel der Wähler gewonnen werden können«.

In diesen Glückwünschen schimmert das Zwiespältige des FI durch, latent kritisch bei Kipping/Riexinger, euphorisch bei Wagenknecht. Wer bitte soll sich wovon genau »ausgeschlossen« und sich deshalb wovon angesprochen fühlen, könnte man mit Kipping/Riexinger fragen?

Die FI ist ohne Zweifel eine radikale Bewegung, die für deutliche Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums, die Einschränkung der Macht von Banken und Konzernen, gegen Korruption, gegen die etablierten Machtzirkel der Absolventen der Elite-Universitäten, für die Energiewende und radikalen Umweltschutz eintritt.

Aber ebenso deutlich ist sie eines nicht, nämlich antifaschistisch. Zwar ist Mélenchon ein ausgesprochener Le Pen-Hasser und ausgewiesener FN-Gegner, trotzdem muss es irgendwann in den letzten Jahren bei ihm zu einem bedeutsamen Umschwung gekommen sein. Die FI steht nämlich für den fundamentalen Bruch mit einer informellen Regel der politischen Kultur Frankreichs, die da heißt: Sollte ein extrem rechter Kandidat in eine Stichwahl kommen, wählen alle anderen »republikanisch«, wählen also dessen Gegenkandidaten unabhängig der politischen Zugehörigkeit. Entsprechende Empfehlungen wurden denn auch unmittelbar nach dem ersten Wahlgang abgegeben, mit einer Ausnahme: Jean-Luc Mélenchon. Die FI veranstaltete stattdessen eine Online-Umfrage unter ihren Anhängern, die erstaunliches zu Tage brachte. Etwa zwei Drittel wollten nicht Macron wählen, sondern sich enthalten oder nicht wählen gehen, mithin lieber eine faschistische Präsidentin in Kauf nehmen als jemanden, von dem man nicht zu Unrecht annimmt, dass er doch nur in neuer Verpackung wirtschaftsliberale Ideen vertritt. Schlimmer noch: etwa jeder achte FI-Anhänger wählte gleich selbst FN.

Will man diesen Bruch erklären, muss man sich stärker mit der Ideologie der FI und des – sich selbst so nennenden – Linkspopulismus beschäftigen. Das Zusammenrücken des extrem rechten und des extrem linken französischen Elektorats erscheint dann nicht mehr als erschreckender Zufall, sondern als Ausdruck erheblicher agitatorischer Kongruenz, schlimmer noch: erheblicher Übereinstimmungen in den theoretischen Grundlagen.

 

Die Theoretikerin Chantal Mouffe

Als führende Theoretikerin des Linkspopulismus gilt die in Großbritannien lehrende belgische Politologin Chantal Mouffe. Die Presse nennt sie regelmäßig die »Inspiration« Mélenchons, beide treten gemeinsam auf und ihr Denken durchzieht das Programm der FI-Bewegung. Sie äußert sich in immer schärferer und direkt politischer Art, zuletzt in »Le Figaro« (11.04.17), einer rechtskonservativen französischen Tageszeitung, die dem Rüstungsunternehmer Serge Dassault gehört. Das dort von ihr entfaltete Weltbild enthält eine klare Frontstellung gegenüber dem politischen System Frankreichs, das per sei als »postdemokratisch«, mithin illegetim, abqualifiziert wird. Es gelte »dem Volke« wieder eine echte Wahl zurückzugeben, d.h. »echte Alternativen« zu bieten. Der Front National gilt ihr als Konkurrent des Linkspopulismus, aber trotzdem als eine legitime »demokratische« Alternative. Er stelle keine Gefahr für die Existenz der grundlegenden demokratischen Institutionen dar. Sie wendet sich gegen seine »sterile moralische Abwertung«, die sie »kontraproduktiv« findet. Verbunden fühlt sie sich mit ihm vor allem durch die Art der Bildung einer politischen Front, nämlich die Unterscheidung von unvereinbarem »Sie« und »Wir«. Nicht teilhaben an der Bildung nunmehr wahrer politischen Debatten dürften hingegen »bestimmte Formen« islamischer Politik. Die Linke habe die Affekte der nationalen Gefühle zu beachten und zu nutzen und, so die abschließenden Worte, müsse sich um einen »leader charismatique« scharen.

Wie ist es möglich, dass eine Wortführerin der radikalen Linken in einem einzigen Text die Nation hochleben lässt, die faschistische Bewegung als demokratisch, die Demokratie aber als illegetim bezeichnet, darüber hinaus Muslime ausschließen will und ihrer Sehnsucht nach einem Führer Ausdruck verleiht?

Zunächst einmal muss man festhalten, dass die Verächtlichmachung des Antifaschismus bereits in Mouffes Grundsatzschrift »On the Policial« von 2005 breiten Raum einnimmt. Sie ist von vornherein gegen die »Strategie der Ausgrenzung«, wertet die »Etikettierung« des Rechtspopulismus als »rechtsextrem« als »eilfertig« ab, ja nennt sie eine »typisch liberale Taschenspielerei«. Der antifaschistische Diskurs ist für sie nur »traditionell« und ganz ungeeignet die Probleme zu lösen. Sie hat nicht unrecht, wenn sie darauf hinweist, dass das Fehlen einer »lebhaft geführten demokratischen Diskussion« mitverantwortlich ist für den Aufstieg des Rechtspopulismus. Die weitgehenden ideologischen Übereinstimmungen heutiger und damaliger rechter Bewegungen thematisiert sie aber nicht. Für Mouffe gibt es weder Holocaust noch Zweiten Weltkrieg und natürlich dann auch keine Lehren aus denselben.

Mouffe sieht sich seit langem als »Postmarxistin«, soll heißen, sie sieht keinen logischen Zusammenhang mehr zwischen Klassenlage und -bewusstsein. Die Arbeiterklasse müsse nicht »von Natur« aus links sein, sondern sei dies nur durch ideologische Vermittlung. An dieser Kritik ist sicher etwas dran, führt bei Mouffe aber in der Umkehr zu der Vorstellung, dass man sich sein Volk »konstruieren« könne wie man wolle, dabei in den beliebten französischen Intellektuellen-Sprech verfallend. Der Unterschied zwischen FI und FN bestehe im Wesentlichen darin, dass der FI alle Einwohner Frankreichs unabhängig ethnischer Herkunft zusammenkonstruieren wolle, der FN aber nicht. Die soziale Realität der französischen Vorstädte, die genau dies unmöglich macht, ignoriert sie dabei gänzlich. Wo kein Marxismus mehr ist, Liberalismus und Sozialdemokratie aber als Feinde erhalten bleiben sollen, bleibt nur der Rückgriff auf den Konservatismus.

 

Carl Schmitt als Vorbild

Genau dies vollführte Mouffe in »On the Political«, dabei bereits mit dem Titel ihre Hommage an den folgenschwersten Ideologen der extremen Rechten Deutschlands deutlich machend: den Verfasssungsrechtler Carl Schmitt. Schmitts »Über das Politische« von 1932 ist so etwas wie das Glaubensbekenntnis in der Denkwelt der Junge Freiheit-Leserschaft und Schmitt ihr Gottvater. Von hier entlehnt Mouffe und mit ihr Mélenchon und seine FI ihre Vorstellung von »Freund« und »Feind« als der Kategorie »des Politischen« als gebe es eine von gesellschaftlicher Realität geschiedene und eigenständige Welt des Politischen. Für Schmitt erhielten Freund und Feind ihren »Sinn« dadurch, dass sie »auf die reale Möglichkeit der physischen Tötung Bezug haben und behalten.« In Praxis sah das bei Schmitt so aus, dass er aktiv beteiligt war am »Preußenschlag« (1932), der Rechtfertigung der Morde im Zuge des sogenannten »Röhmputsches« (1934) und am folgenschwersten des Ausschlusses von Juden aus der juristischen Kategorie »Mensch« (1935), damit deren Ausgrenzung und Ermordung im Zuge bürokratischer Maßnahmen mit ermöglichend. Zeit seines langen Lebens hat Schmitt dafür nie persönliche Verantwortung übernommen, sondern sich, als dies opportun wurde, als »reiner Theoretiker« dargestellt.

Tatsächlich aber setzt Schmitts Denken voraus, dass es innerhalb einer politischen Einheit keine Opposition geben dürfe. Dies gilt auch für Nation und Volk. In seiner »Verfassungslehre« heißt es denn auch mit Bezug auf die Französische Revolution über die »verfassungsgebende Gewalt«: »Sie setzt das Volk als eine politisch existierende Größe voraus: das Wort ›Nation‹ bezeichnet im prägnanten Sinne ein zu politischem Bewußtsein erwachtes, aktionsfähiges Volk … Es wird sich seiner politischen Aktionsfähigkeit bewußt und gibt sich selbst, unter der damit ausdrücklich bejahten Voraussetzung bestehender politischer Einheit und Handlungsfähigkeit, eine Verfassung… Die politische Kraft dieses Vorganges führte zu einer Steigerung der Staatsgewalt, zu intensivster Einheit und Unteilbarkeit, unité und indivisibilité.« Eben dieses Konstrukt ist die Blaupause für die Umsturz-ideologie der FI, wie man noch sehen wird.

Für Mouffe ist das Denken Schmitts eine »theoretische Errungenschaft«, auf das sie sich breit stützt. (Weitere wichtige Stichwortgeber sind Martin Heidegger, ein weiterer NS-Apologet und Niccolo Macchiavelli, der Advokat rücksichtsloser Machtpolitik der Renaissance-Zeit.) Sie ignoriert dabei vollständig den ideologischen Kontext, zu dem nicht nur die zeitgenössische extreme Rechte gehört, sondern auch der lange Zug gewaltverherrlichender staatsterroristischer Denker der europäischen Gegenrevolution, die Schmitt mit in den Kampf gegen die Weimarer Republik warf. Sie reflektiert auch nicht das »Gefühl« der rechten Kräfte der 1920er Jahre, das in Oswald Spenglers »Der Untergang des Abendlandes« seine schlagwortartige Verdichtung gefunden hat. Es war diese apokalyptische Furcht vor »Bolschewismus, Amerikanismus, Feminismus und Judaismus«, die gerade auch gebildete konservative Schichten durchzog und die die tatsächliche Apokalypse des NS mit herbeiführte.

Dass das Freund-Feind-Schema im Sinne Schmitts blutige Folgen haben kann und aus seiner inneren Logik heraus auch haben muss, war Mouffe 2005 noch bewusst und Anlass für Einschränkungen und Mahnungen. Der Antagonismus dürfe nicht eskalieren, sondern müsse in einen produktiven »Agonismus« überführt werden, d.h. »es muss zwischen den miteinander im Konflikt liegenden Parteien eine Art gemeinsamen Bandes bestehen, damit sie den jeweiligen Gegner nicht als zu vernichtenden Feind betrachten, dessen Forderungen illegetim sind.« Sie warnte vor der Zerstörung oder Schwächung »parlamentarischer Institutionen«, weil dadurch die Möglichkeit agonistischer Konfrontation verschwinde und durch ein antagonistisches Wir-Sie ersetzt werde. Es sei nicht Aufgabe der Linken, die liberale Demokatie »als Schwindel und Deckmantel kapitalistischer Herrschaft« abzulehnen, sondern vielmehr die fehlende Verwirklichung ihrer proklamierten Ideale zu kritisieren. Diese Einschränkungen gelten, geht es nach der Mouffe von 2017, nun nicht mehr. Beschäftigt man sich nun mit der durch Mouffes Denken geprägten Bewegung »France Insoumise« sollte man sie jedoch im Ohr behalten.

Führer-Bewegungen

»France insoumise« gibt es nur dank, durch und für »ihren Kandidaten« Jean-Luc Mélenchon. Sie ist im Sinne Max Webers eine charismatische Bewegung, die in Gefolgschaft einer herausragenden Persönlichkeit den Anlauf nimmt, bestehende traditionale, in diesem Fall aber bürokratische Herrschaftsstrukturen umzustürzen. Biographisch gesehen hat sich Mélenchon von einem Vertreter »des Systems«, eingebunden in eine traditionsreiche sozialistische Partei zunächst eine Fraktion innerhalb eben dieser Partei geschaffen. Als er seine Ziele auf diesem Weg nicht mehr zu erreichen können schien, entschied er sich für die Gründung eines Gegenapparates in Form einer eigenen Partei »Parti de Gauche«. Er kandidierte dann 2012 als Kandidat eines Bündnisses insbesondere mit der Kommunistischen Partei PCF. 2017 hielt er es nicht mehr für nötig, irgendwelche Absprachen mit dieser zu treffen, sondern kandidierte aus eigener Vollkommenheit heraus für eine noch breitere Bewegung, eben »France insoumise«, die keine Partei mehr sein will. Der Kandidat steht in keinem demokratischen Verhältnis zur Bewegung mehr. Niemand kann ihn abwählen, denn gewählt ist er nicht, sondern vielmehr einfach »aufgestanden«. Im Namen eines demokratischen Aufstandes ganz und gar undemokratische politische Strukturen zu schaffen, ist ein auffallender Zug rechtspopulistischer, linkspopulistischer, aber auch separatistischer Bewegungen Europas. Selbst die SPD, Mutter aller Polit-Apparate, versuchte es bei Martin Schulz mit der Bewegungs- und Heilands-Ausrufung, darin aber auch gleich wieder sympathisch scheiternd.

In der programmatischen Schrift der FI-Bewegung »L‘avenir en commun« spiegelt sich diese Bewegungsstruktur wieder. Einerseits ist die Schrift vorgeblich das Ergebnis eines breiten Diskussionsprozesses von Aktivisten und unterstützenden Strukturen, was witzigerweise unter der Überschrift »die permanente Evolution« dargestellt wird, die trotzkistische Losung »die permanente Revolution« aufnehmend. Die Worte des Ex-Trotzkisten Mélenchon sind von dieser Debatte aber ausgenommen, denn sie bilden eine eigene und zwar die textstrategisch höchste Ebene. Eine Ebene darunter finden sich zusammenfassende thematische Ausführungen und erst dann folgen Listen von »Maßnahmen«. In ihrem ideologischen Gehalt unterscheiden sich die drei Ebenen deutlich, wobei die unterste, praktischste, sich vorrangig an Wählerinnen des linken und grünen Spektrums richtet.

Vieles von dem was sich dort findet, macht Sinn, z.B. dass man sich doch mal mit der Frage beschäftigen solle, wie viele Menschen sich in unserem Wirtschaftssystem eigentlich buchstäblich zu Tode arbeiten. Weniger Sinn macht die Gewichtung der Themen, bzw. welche überhaupt behandelt werden. Dem Schutz des französischen Waldes durch protektionistische Maßnahmen wird ein Kapitel gewidmet, der Integration hunderttausender arabischstämmiger Jugendlicher in Wirtschaft und Gesellschaft aber nicht.

 

Die FI – eine rechte Bewegung?

Geht man als Leser zu den Zusammenfassungen und dann zu Mélenchons Worten über, nimmt der Ideologisierungsgrad drastisch zu. Das französische Volk ist demzufolge Opfer eines globalen Neoliberalismus, der mit Hilfe einer Kaste von System-politikern die guten und wahren Eigenschaften Frankreichs und seine herausragende Bestimmung in der Welt vereitele. Es helfe nur noch die vollständige Abschaffung des Systems durch Schaffung einer 6. Republik. An das Vorbild der Einberufung der Generalstände von 1789 unausgesprochen anknüpfend, wird eine verfassungsgebende Versammlung gefordert, an der kein vormaliger Parlamentarier teilnehmen dürfe. Da Mélenchon auch noch gerne von der französischen »Präsidialmonarchie« spricht, ist das Bild von der aktuellen französischen Republik als Wiederkehr der Bourbonen-Herrschaft vollständig. Gegen die half, wie jeder weiß, nur noch Gewalt. Zur Lösung der Widersprüche der französischen Republik, die sich, wenn es nach Schmitt geht, so ganz vollständig und einig eine neue Nation schuf, half dann nur noch zehntausendfach die Guillotine.

Unbeleckt durch Lobbyismus und Korruption werde sich das Volk einen neuen Staat schaffen, der, so Mélenchon, »seine Unabhängig zurückerobern« werde. »Hinwegfegen« müsse man die alte Kaste. Erst die neu formierte Nation könne dann für den Frieden in der Welt eintreten, das biologisch »junge« französische Volk vertreten und seine »Kraft« und besonderen Fähigkeiten für die Menschheit ausbreiten. Der französischen Sprache wird dafür eine besondere Bedeutung zugemessen, nicht zu vergessen aber auch dem Militär, das durch Einführung einer Nationalgarde und einer allgemeinen Dienstpflicht für junge Menschen beiderlei Geschlechts zu stärken sei. Für alle dabei eventuell auftretenden Probleme weiß man zwei Lösungen, nämlich erstens den Staat, der in guter französischer Tradition alles regeln soll und wenn das gar zu unrealistisch wird, zweitens die UNO.

Auffällig ist der pessimistische, den allgemeinen Zerfall der Gesellschaft beklagende Tonfall, der rasch in Aggressivität umschlägt. Gerufen wird nach »Ordnung« und »Staat« gegen das Chaos und das ganze Durcheinander unserer Zeit.

Thematische, inhaltliche und ideologische Überschneidungen mit dem Programm des FN sind unverkennbar (siehe antifa 6/2016). Wer hier von wem abgeschrieben hat, ist letztlich weniger interessant als die Tatsache, dass relevante Teile der radikalen Linken nicht mehr wissen wer ihr Todfeind ist.

 

Was würde die Welt dazu sagen?

Wie nationalistisch und gleichzeitig wie weltfremd das FI-Programm ist, lässt sich ermessen, wenn man einmal versucht, es aus außereuropäischer Perspektive zu sehen. Globalisierung erscheint dann nicht einseitig als Geißel Frankreichs, sondern als überaus komplexer und widersprüchlicher weltweiter Prozess – als Prozess, der gleichzeitig zerstört und aufbaut, neue Abhängigkeiten und neue Freiheiten schafft.

So ist für 500 Millionen Chinesinnen und Chinesen Globalisierung in allererster Linie der Weg, der sie aus totaler Armut befreit hat. Aus Sicht von Westafrikanern lesen sich FN und FI-Programmatik wie Versuche, ihnen die Segnungen des französischen Kolonialismus erneut aufzudrücken. Und aus Sicht weltoffener kritischer indischen Intellektueller wie Pankaj Mishra oder Parag Kanna ist es ein lächerlicher Versuch einer ehemaligen Großmacht, sich durch Gewalt eine verlorene Welt zurückzudenken oder zurückzuerobern.