Der Aufstand in Oberstdorf

geschrieben von Guido Hoyer

2. März 2015

Kaum bekannte Selbstbefreiungs-Aktion im bayerischen Allgäu

 

Als die französische Armee am 1. Mai 1945 den Ort Oberstdorf im Allgäu erreichte, war dort die Befreiung vom Naziregime bereits vollzogen. Eine antifaschistische Organisation, die sich »Heimatschutz Oberstdorf« (HS) nannte, hatte sich in der Nacht zuvor bewaffnet erhoben und die Kontrolle über den Kurort übernommen. Ein Akt der Selbstbefreiung in der bayerischen Provinz, der bis heute weitgehend unbekannt ist.

Dr. Franz Josef Pfister mit Familie in Oberstdorf, aufgenommen 1946 oder 1947. Foto: Privat

Dr. Franz Josef Pfister mit Familie in Oberstdorf, aufgenommen 1946 oder 1947. Foto: Privat

Der Münchner Rechtsanwalt Franz Josef Pfister frönte dem Bergsport und besaß in Oberstdorf ein Haus. Zwei seiner Bergkameraden wohnten ebenfalls in Oberstdorf, die Brüder Karl und Dr. Ernst Richter. Ende 1944 begannen die drei Freunde, ihre Widerstandsgruppe aufzubauen. Die Brüder Richter, beide in der Wehrmacht, fingen dort an, Gleichgesinnte für eine militärische Aktion zu gewinnen, Pfister warb in der Bevölkerung. Schließlich kamen etwa 140 Widerstandskämpfer zusammen, von denen nicht alle bewaffnet werden konnten.

Der Aufstand in der Nacht auf den 1. Mai fand derart überraschend statt, dass die Befreiung Oberstdorfs kampflos erfolgen konnte; in der Nacht zum 1.Mai wurden dort zahlreiche Nazis anhand vorbereiteter Listen vom HS festgenommen. Die deutschen Antifaschisten verfuhren dabei wie die Alliierten mit dem »automatic arrest«: Jede Frau und jeder Mann, deren Tätigkeit in einer NS-Organisation bekannt war, wurde vorläufig festgesetzt. So konnten der französischen Armee 100 gefangene Nazis übergeben werden.

Die Oberstdorfer Antifaschisten durften nach dem Einmarsch der Alliierten bewaffnet an der weiteren Befreiung mitwirken. Erst mit der Ersetzung der französischen Kontrolle durch die US-amerikanische wurde der Heimatschutz Oberstdorf am 12. Juli 1945 aufgelöst. Die Franzosen hatten ihn als Hilfstruppe (»forces supplétives«) betrachtet und in den ersten Maitagen gemeinsam mit den ortskundigen Bewaffneten des HS noch verbliebene SS-Widerstandsnester beseitigt. Über Sicherheit und Ordnung in Oberstdorf wachte der HS, dem die Waffen belassen wurden.

Unter der Regie der deutschen Antifaschisten begann die Entnazifizierung. Bereits am Abend des 1. Mai begann ein Untersuchungsausschuss unter dem Vorsitz von Pfister seine Arbeit. Diesem Ausschuss hatten die Franzosen die Aufgabe übertragen, über Freilassung oder Weiterinhaftierung der Nazis zu entscheiden. Kurz und knapp sind die Begründungen, verraten aber immer gründliche Abwägung.

»Obwohl erhebliche Bedenken dagegen bestehen«, heißt es bei der Frauenschaftsleiterin Wally B., »wurde die Entlassung einstimmig verfügt… Frau B. hat in ihrer Parteieigenschaft zweifellos wiederholt auf Frauen in einem nicht verantwortbaren Sinn eingewirkt. Sie ist eine Hysterikerin, die (…) die Eigenschaften eines derartigen Persönlichkeitsbildes (…) auch auszuwerten versteht.« Dagegen blieb die Denunziantin Maria A. in Haft, da sie »bei Kriegsbeginn eine damals strafbare Äußerung des Frl. Lechner weitergegeben hat, welche zu deren Inhaftierung (…) geführt hat. Es erscheint unbedingt angemessen, hier eine Maßnahme durchzuführen, welche eine gerechte Vergeltung (…) erforderlichen.« Ein PG von 1933 blieb in Haft, »da die Persönlichkeit politisch unzuverlässig erscheint und der Bruder des Vorgeführten Kommandant in Dachau war.«

Auch mutmaßlich hochkarätige Naziverbrecher waren dem HS ins Netz gegangen, wie der Kriminalbeamte Otto P., der sich von Berlin aus nach Süden abgesetzt hatte: »Der Vorgeführte gibt an, dass er zur Rückführung von Kosaken … damit diese nicht in sowjetische Gefangenschaft geraten, nach Süden beordert sei. … (Er) erklärt, dass er während seines Dienstes nur mit rein kriminalpol. Aufgaben zu tun hatte, jedoch nicht mit Aufgaben des SD oder der Gestapo. (Es) wird festgestellt, dass er das goldene Parteiabzeichen habe, er habe im Bahnhofshotel seine ges. Akten verbrannt. Beschluss: Haftfortdauer einstimmig angeordnet. Besondere Vorsichtsmassnahmen u. bes. Sicherung erforderlich..«

Auch in Oberstdorf folgte bald die Zeit, da konsequente Antifaschisten nicht mehr allseits beliebt waren. Ehemalige Nazis bemühten zur Rache an den HS-Männern bereitwillige Behörden: Die Kripo Kempten rief im Mai 1946 geradezu zur Denunziation von »Verbrechen« des HS auf; »Plünderung« und »Diebstahl« wurden angezeigt wie auch ein Zwischenfall in der ersten Tagen nach der Befreiung: Dabei war ein gefangener SS-Scherge, der ein Heimatschutz-Mitglied »auf der Flucht erschossen« hatte, von zwei HS-Männern gelyncht worden. Die Brüder Richter und weitere HS-Leute wurden verhaftet, Strafverfahren eröffnet. Erst nach einem Aktenbände füllendem Federkrieg bis 1948 wurden die Verfahren eingestellt. Pfister hatte sich zuletzt mit seiner Auffassung durchsetzen können, dass der HS als Teil der alliierten Streifkräfte gehandelt hatte.