Die »Blutländer«

geschrieben von Thomas Willms

5. September 2013

Ein US-Historiker über »Europa zwischen Hitler und
Stalin«

Nov.-Dez. 2011

Timothy Snyder: Bloodlands, Europa zwischen Hitler und Stalin, 522 Seiten, 29,95 Euro

An diesem «Bloodlands« muss schon etwas Besonderes sein, dachte ich kürzlich auf einer internationalen Konferenz, als Dan Diner mit einer Mischung aus Bewunderung und Abneigung seine halbe Redezeit auf das neue Buch des US-Historikers Timothy Snyder verwendete. Diner versteht den Holocaust als Abkehr von der Rationalität, daran festzumachen, dass die Nazis ihn über die eigene Selbsterhaltung gestellt hätten. Gar nicht wahr, wendet Snyder ein, nichts stehe außerhalb der Rationalität, nicht der Judenmord der Nazis, nicht die Nazi-Massenmorde an anderen Opfergruppen und auch nicht die Massenmorde der Sowjetunion der Stalinzeit. Alles lasse sich erklären aus dem Kampf um die »Sicherung der Sowjetherrschaft« im Stalinschen Verständnis, bzw. die Eroberung und Kolonisierung des Ostraums.

Eine Gesamtdarstellung dieser drei Großverbrechensgruppen, konzentriert auf das Territorium, in dem sie stattfanden, darum geht es in »Bloodlands«. Der Titel soll und wird wohl auch zum stehenden Begriff werden, dafür sorgt das Erscheinen in 20 Sprachen unter ein und demselben englischen Titel. Anders als mancher jetzt vermutet, ist es aber keine »Totalitarismus«-Geschichte, die hier erzählt wird. Charakteristisch ist vielmehr, dass Snyder alle übertheoretisierten Ansätze und alle »nationalen Geschichtserzählungen« verwirft, oder anders gesagt: sich mit nahezu jedem anlegt.

Snyder kann sich das leisten. Aus nicht weniger als zehn Sprachen kann der Autor zitieren, was allein das Buch schon zu einem intellektuellen Ereignis macht. Seine Virtuosität u.a. im Polnischen, Ukrainischen und Weißrussischen gibt ihm die Möglichkeit, neue Forschungen in enormer Breite heranzuziehen und für alle verfügbar zu machen.

Die »Blutländer«, mit denen er sich beschäftigt, sind die in Ostmitteleuropa, in denen im letzten Jahrhundert so oft die Grenzen und auch ihre Bewohner verschoben wurden. Sie umfassen Estland, Lettland, Litauen, Polen, Weißrussland, die Ukraine und den westlichen Rand Russlands. Es ist die Zone, in der nicht nur die entscheidenden Schlachten des Zweiten Weltkrieges, sondern auch der quantitativ und wenn man so will qualitativ bedeutsamste Teil aller Massenmorde sowohl Nazideutschlands als auch der Sowjetunion in der Zeit von 1933 bis 1945 stattfanden. Diese Massengräber und Aschefelder liegen also in den neueren Mitgliedsstaaten der EU und ihren direkten östlichen Nachbarn. Es waren in erster Linie diese Länder, in denen Individuen unabhängig von persönlicher »Schuld« zu Angehörigen von missliebigen Völkern und damit beliebig verschiebbar, nutzbar, tötbar wurden. Die politisch brisantesten Aspekte von Bloodlands sind denn wahrscheinlich auch die Schilderungen der »nationalen Aktionen« des NKWD, in denen (vermeintliche) Angehörige nationaler Minderheiten zu »Agenten« feindlicher ausländischer Mächte gestempelt und rücksichtslos verfolgt wurden. Gleichzeitig stellt Snyder den Massencharakter der Kollaboration mit den Deutschen heraus, massenhaft sogar und gerade bei der Verfolgung und Ermordung der Juden oder anderer nationaler Minderheiten, z.B. in der Ukraine. Weißrussland, das in kürzester Zeit die Hälfte seiner Bevölkerung durch Krieg, Mord und Deportation verlor, schildert Snyder als ein Land mit einem von außen aufgezwungenen Bürgerkrieg. Ob man zu den Partisanen oder zur deutschen Polizei ging, oder bei denen blieb, hatte viel weniger mit Überzeugungen als mit dem Kriegsverlauf zu tun. Aus Judenmördern konnten sehr wohl Sowjetpartisanen werden, deren Krieg sich auch gegen jüdische und polnische Partisanen richten konnte. Umgekehrt aber auch! Snyder schildert Zustände, in denen kaum Möglichkeiten existierten, gute oder auch nur richtige Entscheidungen zu treffen und in der es zu bestimmten Zeiten für bestimmte Menschengruppen – z.B. für ukrainische Bauern 1933 oder polnische Kommunisten 1940, nur noch Feinde gab. In Bezug auf die Naziverbrechen arbeitet Snyder ihren Prozess-charakter heraus, ihre Widersprüchlichkeiten und Unschlüssigkeiten. Er beschäftigt sich mehr mit der Wehrmacht als mit der SS, mehr mit Belzec als mit Auschwitz, mehr mit den Erschießungskommandos als mit den Lagern überhaupt. Als glänzender Stilist schildert, erzählt, vergleicht, gewichtet, analysiert er unablässig die nazistischen und stalinistischen Praktiken gegen »überflüssige« oder »schädliche« Menschengruppen, wie sie sich unterschieden, sich überschnitten oder aufeinander Bezug nahmen. Snyder setzt in diesem Werk neue Maßstäbe wissenschaftlicher und intellektueller Offenheit, Klarheit und Integrität, wahrscheinlich aber wird man es ihm nicht danken.