Die „Rote Kapelle“

5. September 2013

Hans Coppi zu Forschung, Erinnerung und Auftrag

Jan.-Feb. 2007

Dr. Hans Coppi ist Vorsitzender der Berliner VVN-BdA

Mitte Dezember fand aus Anlass des 65. Jahrestages der Verhaftung von Mitgliedern der so genannten „Roten Kapelle“ in Brüssel eine internationale Konferenz über diese Widerstandsorganisation statt, an der unter anderem der Präsident der FIR, Michelle Vanderbourgh, der Botschafter Russlands in Belgien, sowie Angehörige von Widerstandskämpfern aus mehreren Ländern teilnahmen. Unser Beitrag beruht auf der Rede, die Dr. Hans Coppi auf dieser Veranstaltung gehalten hat.

Im Herbst 1941 hatte die deutsche Funkabwehr in Belgien Sender geortet, die in Verbindung mit Moskau standen. Ein Funker hieß in der Sprache der Abwehr „Pianist“. Da mehrere „Musikanten“ vermutet wurden, prägte die Abwehrstelle Belgien den Namen „Rote Kapelle“. Unter diesem Fahndungsnamen ermittelte die Gestapo 1941/42 in Frankreich, Belgien, Holland und Deutschland gegen Einzelpersonen und Gruppen mit Kontakten in die Sowjetunion. Mitte November 1942 legte die Gestapo der Nazi-Führung einen Bericht über die bolschewistische Hoch- und Landesverratsorganisation „Rote Kapelle“ im Reich und Westeuropa vor. Darin suggerierte die Gestapo, auch zur eigenen Reputation, ein organisatorisches Zusammenwirken der weitgehend autonomen Gruppen.

Auch wenn dieses Konstrukt in der Realität nicht bestanden hatte, dominierte nach 1945 in zahlreichen westlichen Veröffentlichungen die Sicht der Verfolger. Im Kalten Krieg wurde die „Rote Kapelle“ zu einem Synonym für sowjetische Spionage. Mitarbeiter von Abwehr, Gestapo und Reichskriegsgericht vermittelten in Befragungen westlicher Geheimdienste den Eindruck, dass Teile der „Roten Kapelle“ nicht aufgedeckt werden konnten und erneut ihre Tätigkeit fortsetzen würden. Die beteiligten Frauen und Männer wurden lange Zeit als Spione einer von Moskau gesteuerten Organisation diffamiert. Überlebende und selbst Angehörige standen unter dem Generalverdacht, für den sowjetischen Nachrichtendienst weiterhin tätig zu sein.

Als ich im Herbst 1968 Leopold Trepper und seine Frau Ljuba in Ost-Berlin kennen lernte, luden sie mich ein, nach Warschau zu kommen. Anfang Mai 1969 nahmen sie mich für einige Tage in ihrer Wohnung auf. Leopold Trepper nannte sich damals Leiba Domb. Mich beeindruckten seine Wärme, Offenheit und Aufmerksamkeit, mit der er auf andere Menschen zuging. Ich erinnere mich noch heute an den jiddischen Klang seiner deutschen Sprache.

Ich hoffte, von ihm mehr über meine Eltern zu erfahren. Mein Vater hatte, so las ich in verschiedenen Veröffentlichungen, als Funker in einer Berliner Widerstandsgruppe gearbeitet. Die Berliner Widerstandskreise sollten dem europaweiten sowjetischen Spionagering angehört haben.

Leopold Trepper erklärte mir, er und seine Mitstreiter seien doch keine Spione gewesen,

sondern Kämpfer in der weltweiten Front gegen das Hitlerregime. Und er sprach mit großer Hochachtung von den deutschen Antifaschisten. Zwar kannte er sie nicht persönlich, wusste nur, dass Anatolij Gurevitch im Herbst 1941 aus Moskau den Auftrag erhalten hatten, nach Berlin zu fahren. Erst viele Jahre nach dem Krieg habe er mehr von dem großen Netzwerk Berliner Widerstandskreise um den Luftwaffenoffizier Harro Schulze-Boysen und den Oberregierungsrat Arvid Harnack erfahren.

Das Ende der sechziger Jahre anwachsende Medienecho zur „Roten Kapelle“ in Westeuropa verfolgte Trepper mit großem Interesse, aber auch mit Sorge. Manches in den Veröffentlichungen, bemängelte er, vermittelte mehr die Sicht der Verfolger, ging an den Beweggründen der Widerstandskämpfer vorbei und vieles sei einfach falsch. Es war seine große Hoffnung, zeitgleich in der Sowjetunion und in Polen eine neue Geschichte der „Roten Kapelle“ zu veröffentlichen. Darin sollten die Perspektive der am Widerstand beteiligten Frauen und Männer, ihre unterschiedlichen Anschauungen und Motive, aber auch ihre große Gemeinsamkeit im Kampf gegen den deutschen Faschismus sichtbar werden.

Als ich Leopold Trepper 1972 ein letztes Mal in Warschau traf, war er einsam, sehr enttäuscht von dem anhaltenden Antisemitismus in Polen und über die Entscheidung aus Moskau, das Buch über die „Rote Kapelle“ nicht zu veröffentlichen. Schon längere Zeit hatte er vergeblich versucht, zu seiner Frau und seinen Kindern nach Westeuropa auszureisen. Erst nach massiven internationalen Protesten, erhielt er 1973 die Erlaubnis, erneut zu emigrieren.

In enger Zusammenarbeit mit Patrick Rotmann entstanden 1975 Treppers Memoiren, die einen großen Leserkreis in vielen Ländern fand. Unterlagen aus Moskauer Archiven standen den beiden nicht zur Verfügung. Sie mussten auf bisherige Veröffentlichungen zurückgreifen und übernahmen teilweise auch darin enthaltene Fehleinschätzungen. Leopold Trepper verstarb 1981 in Jerusalem und fand dort seine letzte Ruhestätte.

In den neunziger Jahren habe ich versucht, in Moskauer Archiven mehr über die Gruppen der „Roten Kapelle“ zu erfahren. Der Generalstab der russischen Streitkräfte, in deren Archiven sich viele Dokumente über diese Gruppen befinden, antwortete nicht auf meine Anfragen. 1995 fand ich im Archiv der Kommunistischen Internationale, im Nachlass von Georgi Dimitroff, einen in der Gestapohaft verfassten Bericht von Leopold Trepper. Darin schildert er die Situation in der Haft, berichtet über die verhafteten Mitstreiter und die Ziele der Gestapo-Sonderkommission, die seit August 1942 ein groß angelegtes Funkspiel mit Moskau führte. Unbemerkt von einem ihn begleitenden Gestapobeamten, gelang es Trepper, bei einem Ausgang in Paris, diese Aufzeichnungen, einer Verkäuferin zu übergeben. Sie leitete den Report an Jaques Duclos weiter. Der Chef der illegalen französischen Kommunistischen Partei ließ den in polnisch verfassten Bericht ins Französische übersetzen und per Funk an die Komintern nach Moskau übermitteln.

Trepper wollte die Zentrale in Moskau informieren und zum Handeln auffordern. Er setzte alles auf eine Karte. Bei einer Entdeckung riskierte er sein Leben. Zugleich musste er vermitteln, dass er, trotz Verhaftung und Teilnahme an dem Funkspiel, kein Gestapoagent geworden, sondern einer der ihren geblieben war. Er hatte einerseits die Schwierigkeit seiner Situation darzustellen und andererseits zu bedenken, wie schnell aus inhaftierten Mitstreitern in Moskau Verräter gemacht wurden. Er beugte vor und legte Rechenschaft ab. Vielleicht ahnte er schon, die Stunde der Abrechnung würde nach dem Krieg kommen. Er wollte auch seine Familie in der Sowjetunion schützen.

Als Trepper erfuhr, dass der mit ihm befreundete Funker der Kommunistischen Partei Frankreichs verhaftet worden war, entschloss er sich im September 1943 zur Flucht.

Bevor ich dieses Dokument im Jahre 1996 in den Vierteljahresheften für Zeitgeschichte veröffentlichte, habe ich mich mit der wechselvollen, oftmals dramatischen, manchmal tragischen Biografie von Leopold Trepper eingehend beschäftigt. Einiges sah ich jetzt anders, als es in dem „Großen Spiel“ von Patrick Rotman und Leopold Trepper beschrieben wurde. Die Handlungsmöglichkeiten und Bedrohungen unter der deutscher Besatzung und der Kampf um sein und das Überleben seiner Freunde nach der Verhaftung waren eine äußerst schwierige Gratwanderung. Ich gewann den Eindruck, dass alle Facetten und auch die Abgründe dieser Grenzsituation nicht vermittelbar sind. Die Einteilung in Kategorien von Helden oder Verrätern versperren die Sicht auf das komplizierte Abwägen der Gefahren und auf die unter den Bedingungen der Haft zu treffenden Entscheidungen.

Der „Grand Chef“, wie ihn seine Freunde und auch die Verfolger nannten, bleibt für mich ein Internationalist, kein Funktionär, sondern ein erfahrener kommunistischer Revolutionär, beseelt von der Vision, eine Welt ohne Armut, Ausbeutung und Unterdrückung, ohne Rassismus und Antisemitismus aufzubauen. Er lebte seit frühester Jugend, zunächst in Polen, dann in Palästina und in Frankreich in einem ständigen Wechsel von Legalität und Illegalität. In unsicheren Zeiten verbreitete er Ruhe, handelte mit Umsicht und Entschlossenheit, wenn nötig auch mit List und Charme. Und er hatte ein Gespür für Gefahren und auch für mögliche Auswege aus lebensbedrohlichen Situationen.

Mitte 1938 ließ sich Leopold Trepper als kanadischer Staatsbürger in Brüssel nieder und begann mit Leon Großvogel, den er in Palästina kennen gelernt hatte, die Gummifabrik „Le Roi de Caoutschouc“ als legale Basis und kommerzielle Tarnung für seine Arbeit zu nutzen. Über eine Ende 1938 geschaffene Tochterfirma „The Foreign Excellent Raincoat“ war vorgesehen, von sowjetischen Gewährsleuten geleitete Filialen in Skandinavien zu eröffnen. Sie sollten als Kontaktstellen für einen Nachrichtentransfer in die Sowjetunion dienen.

Der militärische Nachrichtendienst bereitete nach den für viele Mitarbeiter tödlichen Stalinschen Säuberungen eine neue Generation von „Kundschaftern“ vor. Misstrauisch gegenüber der alten Garde mit ihren Verbindungen zu kommunistischen Parteien und ihren Organisationen, sollten die Jüngeren langfristig die „Berufsrevolutionäre“ von einst ablösen. Die Vorbereitung für ihren Einsatz dauerte nur kurze Zeit, umfasste Chiffrieren und Dechiffrieren, elementare Kenntnisse des Funkens, das Fotografieren, den Umgang mit Sprengstoff und beinhaltete allgemeine Regeln für konspirative Treffs.

Anatolij Gurevitch und Michael Makarow erhielten in Paris uruguayische Pässe. Sie waren jedoch in Moskau mit ihrem neuen Geburtsland kaum vertraut gemacht worden. Als sie in Brüssel eintrafen, war Leopold Trepper entsetzt. Seine neuen Mitstreiter, die als Verbindungsleute eingesetzt werden sollten, waren sowohl für eine nachrichtendienstliche, wie auch für eine kommerzielle Tätigkeit ungenügend vorbereitet. Nach dem Prinzip „learning by doing“ wurden sie nun eingesetzt. Zunächst mussten die Agenten, die eigentlich keine waren, legalisiert werden. Der 24jährige Michail Makarow, jetzt Carlos Alamo, kaufte sich als Teilhaber in der Filiale der Firma „Le Roi de Caoutschouc“ in Ostende ein und erhielt die notwendige Arbeitserlaubnis. Der 26jährige Anatoli Gurevitch, jetzt Vincente Sierra, sollte eine Filiale für gummierte Regenmäntel in Kopenhagen übernehmen.

Der Ausbruch des Krieges machte dies unmöglich. Die Moskauer Zentrale beschloss, Gurevitch als Stellvertreter von Trepper in Belgien zu belassen. Nach dem Einmarsch deutscher Truppen musste Trepper Belgien sofort verlassen. Anatolij Gurevitch blieb, als uruguayischer Geschäftsmann getarnt, im Land und übernahm die von Trepper geschaffene Gruppe. Im März 1941 gelang es Leopold Trepper und Leon Großvogel, Handelsfirmen zu gründen, die Simex in Paris mit einer Filiale in Marseille und die Simexco unter Leitung von Anatolij Gurevitch in Brüssel. Dank vielfältiger Verbindungen auch zu deutschen Wehrmachtsstellen, florierten die Geschäfte.

Nach dem militärischen Überfall auf die Sowjetunion musste der Kontakt nach Moskau über Funk hergestellt werden. Auf den „Krieg im Äther“ waren die Gruppen ungenügend vorbereitet. Nur die Brüsseler Funkstation von Johann Wenzel stand zur Verfügung, Er begann im Sommer 1941, Michael Makarow, Sophie Poznanska, Hermann Isbutzki und David Kamy im Funken und Chiffrieren auszubilden. Im Herbst 1941 konnten aus der Funkstelle in der Rue des Atrébates Meldungen nach Moskau abgesetzt und von dort empfangen werden. Das Anpeilen der Sender durch moderne Geräte war nicht bekannt oder wurde unterschätzt. Auch deshalb kam es vor 65 Jahren im Zusammenwirken der Abwehr und der Kurzwellenüberwachungsstelle West zu der Aufdeckung der Funkstelle in der Rue des Atrébates.

Anatolij Gurewitsch wurde sofort aus der Simexco zurückgezogen. Trepper schickte ihn nach Marseille in den unbesetzten Teil Frankreichs. Dort wurde Gurevitch gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin Margarete Barcza am 8. November 1942 verhaftet, anschließend in Paris, Brüssel und Breendonk verhört und im Dezember nach Berlin gebracht. Ab März 1943 beteiligte er sich an dem Funkspiel der Gestapo mit Moskau.

Anfang der neunziger Jahre hörte ich in Moskau, dass Anatoli Gurevitch in Petersburg lebte. Ich rief ihn an und er lud mich ein ihn zu besuchen. Er berichtete, dass er im September1941 einen chiffrierten Auftrag der Moskauer Zentrale erhalten hatte, zur Behebung von Schwierigkeiten bei der Nachrichtenübermittlung nach Berlin zu fahren. In dem Funkspruch waren die Adresse und Telefonnummer von Harro Schulze-Boyen angegeben. Ende Oktober 1941 traf er in Berlin ein. Von einem vierstündigen Gespräch mit dem Luftwaffenoffizier Schulze-Boysen, brachte er wichtige Informationen mit, die er im November 1941 nach Moskau funken ließ. Darin wurde über knappe Treibstoffvorräte und eine voraussichtliche Offensive in Richtung der Erdölgebiete im Nordkaukasus, über die Lage der Hauptquartiere von Hitler und Göring, über große Verluste der Luftlandetruppen bei der Einnahme von Kreta, über den Bestand an Flugzeugen und über die monatliche Zuführung neuer Flugzeuge an die Luftwaffe, über erbeutete Funkschlüssel und anderes berichtet. Dies waren die bedeutendsten Nachrichten, erklärte Anatolij Gurevitch, die er je nach Moskau durchgegeben habe. Dafür erhielt er den Dank Stalins. Gurevitch versicherte mir, weitere Kontakte zu den Berliner Widerstandskreisen hätten nicht bestanden.

Nach 1933 entstanden um den Angestellten im Luftfahrtministerium Harro Schulze-Boysen und den späteren Oberregierungsrat im Wirtschaftsministerium Arvid Harnack Freundes-, Diskussions- und Schulungskreise. Durch persönliche Kontakte bildete sich 1940/41 ein loses Netzwerk von sieben Berliner Widerstandskreisen heraus. Ihnen gehörten mehr als 150 Nazigegner unterschiedlicher sozialer Herkunft und weltanschaulicher Auffassungen an: Arbeiter, Angestellte, Intellektuelle, Künstler, Ärzte, Unternehmer, Soldaten und Offiziere, Marxisten, Christen, Kommunisten und Sozialdemokraten. Sie diskutierten über politische und künstlerische Fragen, halfen Verfolgten, dokumentierten NS-Gewaltverbrechen und riefen in Flugschriften zum Widerstand auf. Mit ihren vielfältigen Widerstandsaktivitäten unterschieden sie sich von den vor allem auf die Gewinnung und Übermittlung von Nachrichten ausgerichteten Gruppen in Brüssel und Paris.

Harnack und Schulze-Boysen betrachteten die Sowjetunion als Verbündeten zur Überwindung des Nazi-Regimes und warnten einen Vertreter des NKWD-Auslandsnachrichtendienstes in Berlin vor dem militärischen Angriff auf die Sowjetunion. Stalin ignorierte all diese Warnungen. Der Kontakt nach Moskau sollte in der Kriegszeit über Funkgeräte aufrechterhalten werden, was aber wegen technischer Probleme nicht gelang.

Als im August 1942 der Funkspruch aus Moskau an den Agenten „Kent“ in Brüssel mit der Adresse von Schulze-Boysen entschlüsselt wurde, gerieten die Berliner Widerstandskreise ins Visier der Gestapo.

Am 31. August verhaftete sie zuerst Harro Schulze-Boysen und bis März 1943 mehr als 120 Männer und Frauen. Am 19. Dezember 1942 verurteilte das Reichskriegsgericht in einem ersten Prozess zehn Angeklagte zum Tode, darunter auch meinen Vater. Hitler bestätigte am 21. Dezember 1942 die Todesurteile und befahl für Schulze-Boysen, Harnack und weitere zwei Mitstreiter die sofortige Vollstreckung durch den Strang. Für die zu Zuchthausstrafen verurteilten Erika von Brockdorff und die amerikanische Staatsbürgerin Mildred Harnack ordnete Hitler die Neuverhandlung an. Mitte Januar 1943 wurden auch sie zum Tode verurteilt. Weitere 19 Prozesse mit 37 Todesurteilen folgten.

Beteiligt waren der Staatsanwalt und Richter, die dann im März 1943 in Paris zahlreiche Todesurteile gegen Frauen und Männer aus Belgien, Frankreich und Holland fällten. Weit über einhundert Personen, unter ihnen Belgier, Franzosen, Holländer, Ukrainer, Amerikaner, Schweizer, Polen, Russen, Deutsche, Bulgaren, darunter auch zahlreiche Juden, zählten zu dieser weit verzweigten und weltanschaulich heterogenen Gruppierung. Sie wurden verhaftet, litten in Gefängnissen und Konzentrationslagern. Über 50 Frauen und Männer wurden in Gestapo-Verhören gefoltert und ermordet, in Breendonk und Berlin erschossen und in Berlin-Plötzensee hingerichtet. Einige entschieden sich nach Drohungen und Folter, an dem Funkspiel der Gestapo mit dem sowjetischen Generalstab teilzunehmen und hofften, auf diese Weise zu überleben.

Als Leopold Trepper, Anatolij Gurevitch und der Funker Johann Wenzel 1945 nach Moskau zurückkehrten, wurden sie verhaftet und vom KGB der Kollaboration mit der Gestapo beschuldigt und zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Ihr Auftraggeber, der Generalstab der Roten Armee, stand ihnen nicht bei, sondern überließ sie ihrem Schicksal.

Meine Eltern sind im September 1942 verhaftet worden. Ende November 1942 kam ich in einem Berliner Frauengefängnis zur Welt. Mein Vater hat mich noch einmal sehen können. Meine Mutter hat sich am 2. August 1943 endgültig von mir verabschieden müssen. Erst viel später habe ich begriffen, was da mit ihr und mit mir passiert war. Geblieben ist eine sehnsuchtsvolle Zwiesprache und eine offene Wunde, eine Trauer, für die es wohl keinen Trost gibt. Ich wuchs bei meinen Großeltern auf. Viele Überlebende und Angehörige der „Roten Kapelle“ haben in den Jahrzehnten nach dem Krieg gefragt, was eigentlich damals geschehen war. Sie waren ratlos über die Ursachen der Verhaftungen und über den Tod ihrer Angehörigen. Viele ihrer Fragen konnten nicht beantwortet werden, da die sowjetische Seite sich nicht dazu äußerte.

Die Angehörigen von Abwehr, Gestapo und Reichskriegsgericht wurden nach 1945 für ihre Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht zur Verantwortung gezogen. Im Gegenteil. Sie waren gefragte Gesprächspartner für westliche Nachrichtendienste und sorgten dafür, dass die von ihnen zum Tode Verurteilten und die in der Haft Ermordeten erneut als Spione und Landesverräter diffamiert wurden. Heute vermitteln die Bücher von Gilles Perrault, Leopold Trepper, Antalolij Gurevitch, das 2004 von Yehudit Kafri in Israel veröffentlichte Buch über Sophie Poznanska, biographische Arbeiten über Mildred Harnack und Harro Schulze-Boysen und viele andere Veröffentlichungen, Tagungen und Ausstellungen eine neue Perspektive auf den Widerstand der „Roten Kapelle“ gegen das Nazi-Regime.

Die unter dem Fahndungsbegriff „Rote Kapelle“ von Abwehr und Gestapo subsumierten Personen und Gruppen in Belgien, Frankreich, Holland und Deutschland gehörten zum europäischen Widerstand gegen die deutsche Okkupation, vergleichbar mit Widerstandsgruppen, die mit anderen Nachrichtendiensten der Antihitler-Koalition zusammenarbeiteten. Sie handelten, wenn auch oftmals unabhängig voneinander, in einem sie verbindenden, gemeinsamen Geist. Sie kämpften für eine Welt des Friedens und der Freiheit und deshalb wollten sie Nazismus und Krieg in Europa überwinden. Dafür haben viele Frauen und Männer in Belgien, Frankreich, Holland und Deutschland ihr Leben eingesetzt.

Ein Freund meines Vaters, der Bildhauer Kurt Schumacher, schrieb gefesselt in der Zelle des Hausgefängnisses der Gestapozentrale im November 1942: „Ich weiß, dass meine, unsere Idee siegt, wenn auch die kleine Vorhut fällt. Wir hätten gerne dem deutschen Volk das Härteste erspart. Unsere kleine Schar hat aufrecht und tapfer gekämpft. Wir haben für die Freiheit gekämpft und konnten nicht feige sein.“

Es bleiben noch viele Fragen für die Angehörigen der „Roten Kapelle“ und für die historische Forschung offen. Es wäre deshalb wichtig, auch die Archive des russischen Generalstabes und des russischen Auslandsnachrichtendienstes für die Forschung zu öffnen. Die Analyse der dort lagernden Dokumente kann über viele Facetten des Lebens und des Widerstands Aufschluss geben. Das ist nicht nur bedeutsam für die Angehörigen, sondern auch wichtig für die Fragen heutiger und künftiger Generationen zur Geschichte des Widerstands gegen das Hitler-Regime. Die vielen tapferen Frauen und Männer der „Roten Kapelle“ gehören in das kollektive Gedächtnis des neuen vereinigten Europas. Ihr Einsatz und ihr Kampf für eine freie, friedliche und solidarische Welt nehmen uns in die Pflicht, überall gegen Rassismus, Antisemitismus und Nazismus einzutreten.