Die Spritze Hoffnung

geschrieben von Hans Canjé

5. September 2013

19 Lebensgeschichten zu Erinnerung und zur Mahnung

Nov.-Dez. 2010

Karlen Vesper: »Du musst leben! Kinder des Krieges. Kinder des Holocaust«, Karl Dietz Verlag, mit zahlreichen Abbildungen. Ca. 200 Seiten brosch. 16,10 Euro

Von Karlen Vesper erschien in diesem Jahr bereits im Verlag Pahl.Rugenstein »Licht in dunkler Nacht – Gespräche mit 12 anderen Deutschen«, siehe antifa Juli/August

Im Osten Deutschlands sozialisierte Menschen werden bei einigen in diesem Buch vorkommenden Namen nicht lange überlegen müssen. Lilo Hermann etwa. Das war die junge Frau, die als erste deutsche Mutter vom »Volksgerichtshof« zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde. Straßen und Schulen trugen ihren Namen. Nicht zuletzt dank Jorge Amados Buch »Ritter der Hoffung« über den legendären brasilianischen Kommunisten Luis Carlos Prestes war auch er in der öffentlichen Erinnerung. Wie Dolores Ibarurri, die »Passionaria«, untrennbar verbunden mit dem Freiheitskampf des spanischen Volkes. Hilde und Hans Coppi, das war bekannt, gehörten zur Widerstandsgruppe »Rote Kapelle«, wurden in der Hinrichtungsstätte Plötzensee ermordet. Am 27. November 1942 brachte sie im Berliner Frauengefängnis Barnimstraße ihren Sohn Hans, heute Vorsitzender der Berliner VVN-BdA und Gesprächspartner, zur Welt.

Karlen Vesper, bei der Berliner Tageszeitung »Neues Deutschland« für Geschichte zuständig, geht es mit ihrer neuen Arbeit nicht um die hier Genannten. In »Du musst leben!« geht es um die »Kinder des Krieges. Kinder des Holocaust«. Sie hat sich auf die Suche nach den Kindern und Enkeln von Lilo Hermann. Luis Carlos Prestes, der beiden Coppis gemacht und sie, wie die insgesamt 19 hier versammelten Frauen und Männer feinfühlig wie hartnäckig befragt und zum Reden gebracht. Dabei ist ein bewegendes Kapitel des deutschen und internationalen Kampfes gegen den Faschismus entstanden. Da werden aber auch die Auswirkungen des Kalten Krieges und unerfüllter Hoffnungen auf die Biographien von einstmals gemeinsam verfolgten und streitenden Personen (Wolfgang Leonhard oder Ralph Giordano).erkennbar.

Walter Hermann war vier Jahre alt, als seine Mutter hingerichtet wurde. Er wuchs bei seinen Großeltern auf. Nach dem Krieg erst hat er die Geschichte des Mordes an seiner Mutter erfahren. In der Familie war das Thema tabu. »Wir haben niemals und niemandem kundgetan, dass Walters Mutter Kommunistin war«, sagte Hermanns Frau . »Das war damals nicht gut.« Warum? Die einer nachträglichen Sanktionierung des Todesurteils gleichkommende Ablehnung eines Ehrenmals in ihrer Heimatstadt Stuttgart aus dem Munde des renommierten Geschichtsprofessors Erhard Jäckel ist im Buch nachzulesen. Bei allem Respekt dürfe nicht übersehen werden, »dass Lilo Hermann im Sinne einer Bewegung wirkte, die die Freiheit von Forschung und Lehre wie die Freiheit und die Menschenrechte allgemein zu unterdrücken beabsichtigte.«

Dramatisch die Geschichte der Anita Prestes, geboren am 27. November 1936 als Tochter der jüdischen Kommunistin Olga Benario und des Generalsekretärs der brasilianischen kommunistischen Partei Luis Carlos Prestes im Berliner Frauengefängnis in der Barnimstraße. 14 Monate war sie alt bei der Trennung von der Mutter. Sie wusste früh um das Schicksal ihres in Brasilien verfolgten Vaters und der am 23. April 1942 in der »Euthanasie«-Tötungsanstalt Bernburg ermordeten Mutter. »Ich war stets stolz auf sie und bin es noch heute«. Die Jahre ihres Exils in der Sowjetunion (»meine zweite Heimat«), die Solidarität dieses Landes und der DDR sind für sie unvergessen Organisierte Kommunistin ist sie nicht. »Man muss nicht in einer Partei sein, um Partei zu ergreifen.«

Partei ergreifen – das könnte über jeder dieser Biographien der Eltern, Kinder und Enkel stehen. Auch dieser Satz, den Samuel Bak, als Jude 1933 im litauischen Vilnius geboren, als Summe seiner Lebenserfahrung sagt: »Die Hoffnung ist eine Spritze, die man sich jeden Tag gibt, obwohl oder gerade weil man weiß, dass die Situation hoffungslos verfahren ist.« Die Hoffnung, dass nicht vergessen wird was geschehen ist, bewegt Maria und Adam König, die Auschwitz überlebten und heute aktiv in der VVN-BdA ihr Wissen weitergeben. Ähnlich die Motivation von Susanne Rivels, Tochter des 1944 ermordeten »roten Doktors« Johannes Kreiselmaier. Zu ihrem Engagement in Bürger- und Menschenrechtsbewegungen sagt sie: »Mit dem Wissen, was geschehen ist und geschehen kann, musste ich mich einmischen.« Auch darum unterstützt die heute in den USA lebende Soziologin das Projekt »Stolpersteine für den Berliner Arbeiterwiderstand«.

Ein »hochinformatives Kompendium« nennt Ingrid Zwerenz dieses Buch. Ein ehrliches und unpathetisches dazu, das auch nicht ausklammert, was man als »Brüche in Biographien« bezeichnet.