Ein Stein in der Landschaft

geschrieben von Brigitte Bleibaum

5. September 2013

Oder: Was die Diskussionen um Jonathan Litells Roman verraten

Mai-Juni 2008

Jonathan Littell:
Die Wohlgesinnten
Berlin Verlag, 2008, 1380 S., Euro 36

Kaum war der Roman »Die Wohlgesinnten« von Jonathan Littell auf dem deutschen Buchmarkt erschienen, gab es im Kulturradio von RBB einen Hörerstreit darüber, ob man das Buch lesen solle. Wie in einem Streit üblich, spaltete sich die Hörerschaft in Pro und Kontra. Manche bevorzugten historische Dokumentationen, andere wollten das Buch lesen. Gelesen hatte es zu diesem Zeitpunkt noch keiner. Aber alle diskutierten. Das Spektrum der Wertungen durch die Literaturkritik geht von bedingungsloser Fürsprache (Jorge Semprun in der Jury des Prix Goncourt) bis zum Verriss als widerwärtiger Kitsch, »wo eine fiktive Figur in quälender Ausführlichkeit weltanschaulichen Schwachsinn verbreitet und den Nachlass des Nationalsozialismus poliert« (Iris Radisch in Die Zeit).

Mein Anliegen ist es nicht, die zahlreichen Rezensionen durch eine weitere zu ergänzen. Mich bewegt vielmehr die Frage: Bringt das Buch neue Impulse für die Auseinandersetzung mit dem Faschismus? Spiegel-Autor Romain Leick lässt die Katze aus dem Sack, wenn er schreibt: »Mal sehen, ob das deutsche Publikum, das sich mit der Vergangenheit unvergleichlich viel besser auseinandergesetzt hat als das französische, aus den ›Wohlgesinnten‹ ebenfalls einen Bestseller machen wird.« Nun ist es heraus! Die Legende der mustergültigen Vergangenheitsbewältigung wird reanimiert, und das in einer Zeit, wo in Deutschland das Geschichtsbild tendenziell immer stärker vom historischen Revisionismus geprägt wird. Es geht die Rede vom Paradigmenwechsel. Im Klartext: Es geht um eine Um- und Neubewertung der Geschichte. Hermann Peter Piwitt hat dafür eine einfache aphoristische Formel gefunden: »Und die Sonne dreht sich wieder um die Erde.«

Das Buch von Littell trifft auf ein offizielles Geschichtsbild, das das deutsche Volk als Opfer sieht und dies auch massenwirksam darstellt. Mit Weichspüler und Himbeersoße versetzte Historienschinken vom »Untergang« über »Dresden«, von der »Flucht« bis zur »Gustloff« sorgen für seine Installierung in deutschen Köpfen und passen genau in das neue Selbstverständnis über die Zeit von Faschismus und Krieg.

Weder Littells literarische Figur des SS-Mannes Dr. Max Aue noch das Thema sind originär. Robert Merle hat in »Der Tod ist mein Beruf« den Lagerkommandanten von Auschwitz, Rudolf Höß, porträtiert; er hat recherchiert und Gespräche eines amerikanischen Psychologen mit Höß ausgewertet. Sein Buch ist eine literarische Neuschöpfung der Kunstfigur Rudolf Lang und zugleich die Arbeit eines Historikers über die Todesfabrik Auschwitz, wie Merle in einer Nachbemerkung zu seinem Buch schreibt. »Denkt man darüber nach, so übersteigt es jedes Vorstellungsvermögen, dass Menschen des 20. Jahrhunderts, die in einem zivilisierten Land Europas lebten, soviel Methode, Findigkeit und schöpferische Gaben eingesetzt haben sollen, um einen riesigen industriellen Komplex zu errichten mit dem Ziel, ihrergleichen massenweise zu er-morden.«

Merle ist der Auffassung, dass in einer Gesellschaft, deren Handlungen nicht mehr von der öffentlichen Meinung kontrolliert werden, »alles möglich wird«. Eine solche Gesellschaft finde unweigerlich die »willigen Werkzeuge« für ihre Verbrechen. »Es hat unter der Naziherrschaft Hunderte, Tausende Rudolf Langs gegeben, moralisch innerhalb der Immoralität, gewissenhaft ohne Gewissen, kleine Kader, die dank ihrer Zuverlässigkeit und dank ihren ›Verdiensten‹ zu den höchsten Ämtern aufstiegen. Alles, was Rudolf Lang tat, tat er nicht aus Grausamkeit, sondern im Namen des kategorischen Imperativs, aus Treue zum Führer, aus Respekt vor dem Staat. Mit einem Wort, als ein Mann der Pflicht: und gerade darin ist er ein Ungeheuer.«

Merle schrieb sein Buch 1950 bis 1952. Unmittelbar nach 1945 erschienen in Frankreich viele erschütternde Zeugnisse über die Todeslager jenseits des Rheins. Aber die Wiederaufrüstung in Westdeutschland signalisierte den Niedergang der Konzentrationslagerliteratur.

»Die Erinnerungen an das Totenhaus standen der Politik des Westens im Wege: man verdrängte sie«, schreibt Merle über die historischen Bedingungen der Entstehungszeit seines Romans

In die Kategorie der Täterporträts gehört meines Erachtens auch »Das Beil von Wandsbek« von Arnold Zweig, das 1943 in Haifa/Palästina in hebräischer Sprache erschien. Zweig war 1937 auf eine Zeitungsnotiz gestoßen: Selbstmord eines Henkers. Ihn durchblitzte die Vision, dies sei der Kern einer Fabel, »um im Aufstieg des Dritten Reiches seinen Untergang schon mitzugeben«. Die deutsche und angelsächsische Ausgabe erreichte die Leser erst 1948. »Inzwischen hatte sich die antifaschistische Welle längst überschlagen. Mein Buch traf jetzt auf eine mehr oder weniger faschistenfreundlich gestimmte internationale Öffentlichkeit, dergestalt, daß der seit 15 Jahren befreundete amerikanische Verlag des Buches das Schlusskapitel aus eigener Machtvollkommenheit wegließ.« So umschreibt Zweig die Atmosphäre der Kalten-Kriegs-Ära.

Auf der Internet-Seite der FAZ wird das Buch von Littell ganz gezielt unter dem Aspekt »Die Nazis hatten Kultur« diskutiert. Die Ideologie der Nazis habe starke kulturelle Wurzeln, die Nazis waren grausam, aber ihre kulturelle Basis war solide, heißt es.

Nun wird weder auf die Ideologie eingegangen noch wird die Frage beantwortet, worin die kulturelle Basis denn bestehe bzw. Argumente für diese Behauptung beigebracht. Aber das haben deutsche Debatten so an sich, man muss nichts erklären, es reicht, zu schwadronieren.

Die Kernaussage, die Nazis hatten Kultur, nimmt keinerlei Bezug zu konkret-historischen Vorgängen, etwa zu den kulturpolitischen Aktionen der Nazis seit dem Ende der Weimarer Republik und zu den verheerenden Auswirkungen ihrer Herrschaft auf die deutsche Kulturlandschaft. »Die Nazis hatten Kultur« müsste sich eigentlich auf einen Zusammenhang beziehen, der mit der »Kultur der Nazis« gar nichts zu tun hat, sondern in der Sozialstruktur der NS-Führungsschichten zu suchen ist, wie Sebastian Haffner in seiner brillanten Analyse »Germany: Jekyll & Hyde« (1940 in London erschienen) darlegt. Er spricht von einem bereits vorhanden gewesenen »Rohmaterial«, das »aus der amorphen Masse des deutschen Volkes nur noch ans Tageslicht geholt zu werden brauchte: aus dem Bürgertum, aber auch aus den Schichten der Kaufleute, der Schulleiter, der kleinen Schulmeister, aus den Universitäten, der mittleren Beamtenschaft und der Schicht der alten Reserveoffiziere«. Es ist nicht schwierig, ihre Spuren bis in die Vergangenheit zurückzuverfolgen, ihren Ursprung im kaiserlichen Deutschland und in der Zeit davor zu finden, in den mittelständischen Teilen der früheren Burschenschaften, in der deutschen Turnerschaft und in »weiteren noch obskureren Teilen des sozialen Organismus«.

Es sei eher selten, resümiert Haffner, dass eine so geschlossene uniforme Schicht ohne Tradition und Erziehung aus einer Nation hervorgegangen ist. Sie kommt aus der Mitte der bürgerlichen Gesellschaft, ihre Wurzeln reichen bis weit ins 19. Jahrhundert.

Diesen Wurzeln nachzugehen einer solchen Mühe unterziehen sich die schlichten, von jeder Kenntnis historischer Zusammenhänge unbelasteten Medienmacher nicht.

Auch der Bodensatz des Eigendünkels, auf dem nationalistische Überhebung und Verachtung anderer Völker wuchern sollten, hat Wurzeln, die weit ins 19. Jahrhundert zurückgehen. Der deutsche Patriotismus hat von Anbeginn eine völkische Attitüde, die der österreichische Dichter Franz Grillparzer als eben jenen maßlosen politischen Eigendünkel charakterisiert hat. Grillparzer sieht einen ursächlichen Zusammenhang von nationaler Überhebung und der Misere der Deutschen, keinen Nationalstaat zu haben. Die Nationalität in schärfster Ausprägung, die er bei den Deutschen konstatiert, setzt nach seiner Auffassung »daher einen Zustand der Rohheit und Isolierung voraus«.

Grillparzers Einsicht, dass Humanität über den Nationalismus zur Bestialität führen kann, ist schon zu seinen Lebzeiten ohne Verständnis und Echo geblieben und von der deutschen und österreichischen Geisteswelt nicht weiter verfolgt worden. Es handelt sich offensichtlich um eine Erkentnisschranke, die wirksam wurde in einer Zeit, wo sich Nationalismus, Rassismus und völkischer Populismus zu formieren begannen und schließlich zu der Barbarei des Faschismus führten.

Grillparzer erkennt diesen Zusammenhang, der im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts zunächst in Keimen sichtbar ist und der doch für das deutsche Selbstverständnis typisch werden soll, das Dünkel gegenüber anderen Völkern bis hin zu der rassistisch fundierten Herrenmenschenideologie hervorgebracht hat. Rohheit steht hier für einen Kontext von Verhaltensweisen, die anderen Völkern gegenüber mit brutaler Wucht entgegengebracht werden. Am deutschen Wesen sollte einst die Welt genesen.

»Der Weg der neuen Bildung geht/Von Humanität/Durch Nationalität/Zur Bestialität«, schreibt Grillparzer 1849. Er stellt das Bild, das die Deutschen von sich haben, in Frage. »Wie die Deutschen dazu kommen sollen, ihrem Eigendünkel zum Trotz von der hohen Stufe herabzusteigen, die sie erreicht zu haben glauben, wo Lessing und Kant und Goethe sie gelassen haben, das übersteigt jede Voraussetzungsgabe.« Ohne den Begriff zu gebrauchen, bezieht er sich auf die Dichter und Denker, die sozusagen als Synonym für deutsche Identität gelten.

Die deutsche Aufklärung und Klassik, eingeschlossen die klassische deutsche Philosophie, hat zum geistigen Reichtum Europas wesentlich beigetragen und gehört zum kulturellen Erbe der Menschheit. Gerade deshalb ist es legitim, den Widerspruch zwischen Geistigkeit und Bestialität, der Grillparzers Vorstellungskraft überfordert, zu benennen. Es ist im Grunde die Frage, wie es geschehen konnte, dass aus dem Land der Dichter und Denker ein Land der Richter und Henker werden konnte. Eine Orientierung der Debatten über Littells Buch auf diese Frage hat es meines Wissens nicht gegeben.