Film im Zerfall

geschrieben von Detlef Kannapin

5. September 2013

oder: Wie Bastarde ohne Ruhm die Geschichte neu erfinden

Sept.-Okt. 2009

»Nostalgie statt Erinnerung ist das erste Kennzeichen des aktuellen Jahrhunderts, Geschichte als Quatsch das zweite und Vergessen als Narkotikum zum Überstehen der Gegenwart das dritte. Darüber hinaus ist die Gesellschaft elementar gekennzeichnet von: einer ständigen technologischen Erneuerung, einer Fusion von Staat und Wirtschaft, einem generalisierten Geheimnis, einer Fälschung ohne Replik und immerwährender Gegenwart.«

Letzteres wurde 1988 von Guy Debord geschrieben.

Man stelle sich folgendes Szenario vor: Ein frisch berufener Professor für Zeitgeschichte hält an einer nicht ganz unberühmten deutschen Universität seine Antrittsvorlesung. Thema: »Warum wir bisher über die Geschichte des Faschismus nur die Hälfte wissen, wenn überhaupt«. An der Quellenüberlieferung kann es nicht liegen, auch nicht am Desinteresse der Hörer und schon gar nicht am gesellschaftlichen Willen zur Aufarbeitung. Woran aber dann? Unser Professor überrascht mit einer simplen Erkenntnis: Wir, das heißt das Gemeinwesen, das sich auf die Fahnen geschrieben hat, in allen Lebenslagen eine lückenlose Aufklärung zu betreiben, wir haben bislang zu wenig die Rezeptionsgeschichte beachtet, konkret hier: die der Populärkultur.

Wir befinden uns im Jahre 2020. Der Sozialismus ist immer noch nicht eingeführt, einen neuen Faschismus gibt es nur hier und da in Light-Versionen, und der Kapitalismus dümpelt mehr schlecht als recht vor sich hin und bestätigt einmal mehr seine allgemeine Krise. Jedes Kind weiß, wer Adolf Hitler war. Krupp wird aber oft mit Knorr verwechselt. Tja, und was war nun noch mal Faschismus?

Eine Horde wild gewordener Kleinbürger zertrampelt im Anflug von Größenwahn, mittels eines bösen Triebs und hemmungsloser Selbstüberschätzung die zarte Pflanze erster demokratischer Regung und zettelt den vorläufig letzten Weltkrieg an. Warum eigentlich? Der Maler will Linz verkünsteln, der Hühnerzüchter braucht Freiland, Meier möchte fliegen können, Michael will nach Marathon und Helene den totalen Film schaffen. Von Politik haben alle nichts gewusst, von Ökonomie erst recht nicht. Sie wissen nur, dass sie los müssen. Aufbruch zu östlichen Ufern – dorthin schallt der Ruf.

Ein längst vergessener Psychoanalytiker schrieb 1933, dass die Biographien der Nazi-Größen für die Erklärung des Faschismus ohne Belang seien. Es wäre allerdings seiner Ansicht nach interessant, dass sich deren Einstellungen mit einem Großteil der Auffassungen des Kleinbürgertums deckten. Jetzt wäre zu erforschen, wo die Ursachen dieser Einstellungen liegen würden. Unser vergessener Forscher kommt auf die imperialistischen Produktionsverhältnisse.

Um die Vision abzuschließen: Der Professor erwähnt in seiner Vorlesung einen Film, der das Bewusstsein zur geistesgeschichtlichen Lage des Faschismus eben im Jahre 2009 nachhaltig erschüttert hat. Die Nazis wurden nämlich erledigt. Alle. Durch eine Killerdivision der Westalliierten mit einem Schauspieler an der Spitze, der im Film eine Figur namens Brad Pitt verkörpert. Die Judenfrage kann nicht gelöst werden, weil der Holocaust durch die aufrechten Widerständler in den Wäldern der Ukraine und der Bretagne verhindert werden konnte. Nazis quatschen nur dummes Zeug, und wenn sie mal nicht reden, sehen sie aus wie Til Schweiger, der allerdings offenbar zur anderen Seite gehört. Ein Kino fliegt in die Luft. Warum auch nicht? 90 Prozent der Leinwandprodukte der gesamten Filmgeschichte gehören der Kategorie Verschwendung von geistigen und materiellen Ressourcen an. 9,8 Prozent sind vielleicht Kunst, aber verschüttet und nicht präsent. Die übrigen 0,2 Prozent teilen sich »Vom Winde verweht« und »Der Untergang«. Die bösen Nazis sterben in dem großen Kino. Endlich und nicht von eigener Hand. Riefenstahl hat damit ihren eigenen Triumph des Willens und Hitler muss Blondie nicht vorher vergiften.

Wie man da schreiben kann, dass die Bastarde ohne Ruhm »Geschichte, Erinnerung, Erzählung und Kino« neu definiert haben, ist höchst befremdlich, wenn nicht sogar grob fahrlässig. Unterhaltsame Geschichtspornographie wird nicht dadurch besser, dass sie sich als solche mit jedem Meter zu erkennen gibt. Sollte es durch Tarantinos Irreführung tatsächlich gelingen, die schon lange im Gang befindliche Umdefinition, Verharmlosung, Neutralisierung und Normalisierung der Epoche des Faschismus im Populärkulturschema hoffähig zu machen, dann dürfte Adolf Hitler als großer Maler in die Geschichte eingehen und seine Gönner, ohne die er aus den Hinterzimmern bayerischer Weißbierkneipen nie herausgekommen wäre, als hochherzige Samariter.

Erstens: Tarantino kennt die Filmgeschichte nur zur Hälfte. Wer so konsequent die sowjetische und osteuropäische Filmkunst bis 1990 ignoriert, der kann nur zum Arsenal der B- bis D-pictures aus dem kapitalistischen Massenbetrieb greifen. Das hat indes auch sein Gutes. Man kann nicht alles verwursten, schon gar nicht bei diesem Thema. Und darüber sollte man froh sein.

Zweitens: Auch der Film – und zwar jeder – hat sich an die Realität zu halten. Folgende Sätze wurden 1918 niedergeschrieben und beanspruchen zeitlose Gültigkeit: »Um zu erkennen, ob das Bild wahr oder falsch ist, müssen wir es mit der Wirklichkeit vergleichen. Aus dem Bild allein ist nicht zu erkennen, ob es wahr oder falsch ist. Ein a priori wahres Bild gibt es nicht.« (Ludwig Wittgenstein) – Ende der Darbietung.