Für immer wegsperren?

geschrieben von Tanja Girod

5. September 2013

Die deutsche Praxis verstößt gegen die Menschenrechte

Sept.-Okt. 2010

Schutzhaftbefehl Günter Discher (Swing Jugend Hamburg) »Trägt durch sein zersetzendes und staatsabträgliches Treiben erhebliche Unruhe in die Bevölkerung«

Wie bereits in der letzten Ausgabe der antifa berichtet, hat die Bundesrepublik das Verfahren »M. gegen Bundesrepublik Deutschland« in Sachen nachträglicher Sicherheitsverwahrung vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verloren. Bei dieser Nachhilfestunde in Grundrechten wurde Deutschland außerdem zu Entschädigungszahlungen in Höhe von 50.000 Euro verurteilt und muss jetzt Teile des Strafgesetzbuches ändern. Seither wird in den Medien das Problem der Sicherheitsverwahrung und der elektronischen Fußfessel in allen technischen Einzelheiten diskutiert.

Diese Debatte bildet durchaus Ängste und Befürchtungen der Bevölkerung ab. Doch vor allem verwurstet sie auf primitive Weise ein ernstes Thema. Denn eins ist sicher: Kein Staat ist in der Lage, seinen Bürgern absolute Sicherheit zu garantieren. Das einzige Versprechen, das Justiz, Mandatsträger und Exekutive geben könnten, dass der Rechtsstaat seinen Prinzipien treu bleibt. Und genau das wird hier gebrochen.

Ein Vorläufer der Sicherheitsverwahrung, bzw. ein ihr ziemlich ähnliches Instrument war in dem 1934 eingeführten Gewohnheitsverbrechergesetz enthalten. Durch die Nazis ins Strafrecht eingeführt, wurde es in der DDR abgeschafft, in der Bundesrepublik blieb es weiter gültig. Nachdem es lange Jahre nicht benutzt worden war, holte man es 1998 wieder aus der juristischen Versenkung. In zahlreichen Einzelschritten wurde es seitdem immer weiter verschärft. Seit 2002 können sich die Richter zusätzlich zur Strafe eine Sicherungsverwahrung vorbehalten. Zwei Jahre später führte der Gesetzgeber auch die nachträgliche Verhängung einer Sicherungsverwahrung ein. Seit 2007 kann diese auch über jugendliche Straftäter verhängt werden.

Ein fragwürdiges Konstrukt. Das begangene Delikt ist hier nicht mehr länger eine Schuld, die durch eine Strafe gesühnt werden kann, wie das Bundesverfassungsgericht in der Ablehnung der Klage von M. ausführte. Sie sei »im Gegensatz zur Freiheitsstrafe weder mit Missbilligung vorwerfbaren Verhaltens verknüpft noch bezweckt sie den Ausgleich strafrechtlicher Schuld. Sie zielt vielmehr ausschließlich auf die Verhütung künftiger Rechtsbrüche.« Die Sicherungsverwahrung ist also keine Strafe, sondern eine Maßregel. Sie antwortet nicht auf Schuld, sondern auf eine angenommene Gefahr. Wenn die Gesellschaft glaubt, bestimmte Personen nicht resozialisieren zu können, kann sie über diesen juristischen Hintertrick missliebige Personen wegsperren.

Die Anzahl der Betroffenen nimmt seit 1996 ständig zu. Damals gab es lediglich 196 Sicherungsverwahrte, 2006 bereits 400 und bis Ende August 2009 kamen noch einmal 100 hinzu. Nach Einschätzung eines Bremer Kriminologen stehen derzeit rund 7000 Häftlinge unter besonderer Beobachtung der Justizvollzugsbeamten – und sind damit potentiell bedroht, nach Absitzen ihrer Strafe Sicherheitsverwahrte zu werden. Es handelt sich vor allem um Sexualverbrecher, doch auch Mörder, Brandstifter, politische Straftäter und Bankräuber sind betroffen, ebenso Betrüger.

Nachdem die öffentliche Debatte in den letzten Wochen weiter hochgekocht wurde, musste selbst Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger zugegeben, dass die Entscheidung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs auch in Deutschland zu berücksichtigen ist. Das bedeutet, dass gegenwärtig noch (je nachdem, wessen Ansichten man folgt), zwischen 80 und 200 Sicherungsverwahrte widerrechtlich inhaftiert sind.

Der Gesetzgeber ist also gefordert; nach der Strasbourger Entscheidung müssen die deutschen Gesetze zur Sicherungsverwahrung §§ 66 ff. StGB novelliert werden. Über mögliche Lösungen streitet die Koalition noch. Die Rechte der Strafgefangenen spielen in der bisherigen Diskussion allerdings keine Rolle.

Bei Untersuchungen zu Selbstmorden in bundesdeutschen Haftanstalten zeigte sich, dass unter den Toten auffallend viele Sicherheitsverwahrte oder von dieser Maßnahme Bedrohte waren. Andere trieb die Ausweglosigkeit ihrer Lage zu Ausbruchsversuchen, wie im Dezember 2009 in der Justizvollzugsanstalt Aachen. Das Argument des Schutzes der Bevölkerung, mit dem die Sicherungsverwahrung begründet wird, kann unter diesen Bedingungen nicht mehr aufrecht erhalten werden. Wenn die Sicherheitsverwahrung gefährliche Straftäter dazu bringt, auszubrechen oder den Freitod zu wählen, stimmen unsere Ideen von Strafe und Gerechtigkeit nicht mehr. Der bittere Nachgeschmack den die Schutzhaft im Nationalsozialismus hinterließ, ist noch da.