Hunderte sahen es

geschrieben von Heinrich Fink

5. September 2013

Die Leidensstationen der Großmutter erkundet

Sept.-Okt. 2010

Siegfried Ransch: Jüdisches Arbeitsheim Radinkendorf (1940 bis 1943). Nora Verlagsgemeinschaft Dyck & Westerheide, Berlin 2010, 148 Seiten. 19,90 Euro.

Siegfried Ransch widmet sein Buch »Jüdisches Arbeitsheim Radinkendorf (1940-43)« seinen Großeltern Selma und Louis Blanck. Sie lebten als jüdische Bürger in Brandenburg an der Havel. Im Zuge der »Endlösung der Judenfrage« vom 20. Januar 1942, der sogenannten Wannseekonferenz, nahmen die Repressalien gegen Juden auch in Brandenburg zu. Siegfried Ransch schreibt: »Brutale Nazis im Hause Jahnstraße 55 hatten sich gegen Selma Blanck etwas Besonderes einfallen lassen: Sie errichteten in dem weiträumigen Innenhof eine Art Marterpfahl, oben ein Pappschild mit einem Judenstern. Die Nazis holten Selma Blanck aus der Wohnung, die im obersten, vierten Stock lag und setzten die alte Frau – über 70 Jahre – an diesen Pranger, manchmal stundenlang, manchmal weniger, je nach Lust und Laune. Der Innenhof war von vier Seiten, fast geschlossen, durch Wohnhäuser umrahmt. Jenen Terror gegen Juden sahen also hunderte Menschen. Von der Familie durfte niemand zu Selma Blanck gehen. Als der viereinhalbjährige Enkelsohn doch einmal zu ihr lief, wurde er von den Nazis verprügelt.«

Sicherlich sind diese schrecklichen Kindheitserinnerungen Gründe für ihn, die Spurensuche der Wege seiner Großmutter, die in Theresienstadt gestorben ist, historisch nachzugehen. Sie führten ihn auf Umwegen nach Radinkendorf bei Beeskow, Dorfstraße 5, wo sich von 1940-45 ein jüdisches Arbeitsheim befand, eingerichtet, um Juden an einem Ort zu konzentrieren, von wo sie Deutschland verlassen sollten. Die »Reichsvereinigung der Juden in Deutschland« wurde genötigt, das Haus zu beziehen. Sie tat das in der Hoffnung, das Leben der dort hin überwiesenen Juden durch »Arbeit zu erleichtern«. Zu diesem Zwecke pachtete die Reichsvereinigung 1940 vom »Diakonischen Bund Glaubensdienst« das Haus mit Nebengebäuden und installierte das »Jüdische Arbeitsheim Radinkendorf«, das unter der Aufsicht des Reichssicherheitshauptamtes stand.

Der Autor ist der Geschichte dieses Hauses und seiner politischen Funktion in staatlichen Archiven nachgegangen, auch im Archiv des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche in Deutschland, die letztlich Eigentümer dieses Hauses war. Er zitiert einen für mich erschreckenden Brief einer Mitarbeiterin der Evangelischen Kirche nach der Abwicklung und Umwidmung des Hauses, das das Diakonische Werk an die Organisation Todt verkaufte. Wegen juristischer Probleme verlief der Verkauf nicht ohne Schwierigkeiten, die aber durch einen Führererlass geklärt werden konnten. »Nun ist es also mit Gottes Hilfe gelungen, alles zu einem guten Ende zu führen, dass kein Beteiligter einen Pfennig verliert, und ich noch in der angenehmen Lage bin, denjenigen treuen Schwestern, die sich wirklich treu einsetzten, eine Entschädigung zu zahlen. Wie freue ich mich darüber und bin dem Herrn dafür so dankbar, dass Er so gütig und treu durchhalf durch alle Widerwärtigkeiten und Schwierigkeiten und mir immer wieder Mut und Kraft und Freude schenkte durchzuhalten. Daß alle die vielen Verpflichtungen getilgt werden können, ist ein Wunder vor meinen Augen. Was haben wir doch für einen großen Gott und herrlichen Heiland! Ich bin auch gewiß, dass unsere Arbeit in Radinkendorf, wenn sie auch noch so schwach getan wurde, doch keine vergebliche war…«

Ransch nennt diesen Brief einen »Einblick in die Mentalitätsgeschichte«… »dieser frommen Frau«. Ist er nicht geradezu gotteslästerlich?

Mit seiner unermüdlichen Arbeit im Nachgehen der Leidenstationen seiner Großmutter hat Siegfried Ransch einen Beitrag zur weiteren Erforschung des Lagersystems zur Vernichtung der Juden geleistet. Dieses Buch zeigt, dass diese Geschichte noch viele offene Stellen hat. Dem Autor ist zu danken dafür, aus eigenem Schmerz die historischen Lücken mit zu schließen und dem Verlag, das Ergebnis öffentlich zu machen.