»Schwester im Geiste«

geschrieben von Wolfgang Gehrcke

5. September 2013

Ein »Geschichtsbrief« nach einer Preisverleihung

Mai-Juni 2012

Liebe Clara,

ohne Verankerung in der Geschichte, ohne eigene Kultur und Tradition ist jede Linke (und damit meine ich nicht nur die Partei gleichen Namens) ein schwankendes Rohr im Wind. Mein Besuch kürzlich in Moskau, an Deiner Grabstätte an der Kremlmauer, hat mich elementar dazu gebracht, noch einmal über die Linken und ihren Platz in der Geschichte nachzudenken. In welcher Tradition stehe ich? In welcher Tradition möchte ich gesehen werden? Und welche Traditionen kann eine Partei Die Linke, die selbst noch nicht einmal zehn Jahre besteht, deren Wurzeln aber weit über 150 Jahre in die Geschichte zurückreichen, für sich beanspruchen? Die Bilder der Köpfe auf den Broschüren und Bucheinbänden zogen vor meinem geistigen Auge vorbei – mal waren es drei, dann vier oder sogar fünf. Ich möchte nicht, dass so mit Geschichte umgegangen wird. Ich sah stolze Bilder von Kämpferinnen und Kämpfern wie Rosa Luxemburg, Dolores Ibaruru – la Passionaria, Che Guevara, Karl Liebknecht, aber auch Lenin und seine Kampfgefährten Bucharin, Trotzki, Kamenjew, Sinowjew und viele andere. Ja, und da waren dann die retuschierten Bilder – auf denen viele nicht mehr zu sehen waren, die ich gern auch hier an der Kreml-Mauer getroffen hätte. Zusammen mit Rosa steht Dein Name für Revolutionärinnen aus Deutschland, für Nachdenklichkeit, Liebe und Opferbereitschaft.

Ich freue mich darüber, dass der Parteivorstand einen Preis mit Deinem Namen für emanzipatorische, sozialistische und sozial engagierte Fraueninitiativen ausgeschrieben hat und ich bin stolz darauf, dass der Clara-Zetkin-Ehrenpreis in diesem Jahr an Esther Bejarano verliehen wurde – Deine Schwester im Geiste. Die Fraktion Die Linke im Deutschen Bundestag hat ihren Sitzungssaal nach Dir benannt und dem Präsidenten vorgeschlagen, das kürzlich eröffnete neue Gebäude des Bundestages in der Wilhelmstraße 65 »Clara-Zetkin-Haus« zu nennen.

Ins Gedächtnis dieses Parlaments müsste eingebrannt sein, was Du zur Eröffnung des Reichstages 1932, in dem sich schon eine Mehrheit eines brüllenden, tobenden, nach Mord gierenden Mobs versammelte, ausrief: »Ich eröffne den Reichstag, gebührend meiner Pflicht als Alterspräsidentin und in der Hoffnung, trotz meiner jetzigen Invalidität das Glück zu erleben, als Alterspräsidentin den ersten Rätekongreß Sowjetdeutschlands zu eröffnen.«

Du hast ein »Sowjetdeutschland« nicht erlebt und Rosa und Du hätten späteren stalinistischen Deformationen sicher energischen Widerstand entgegengesetzt.

Ich lese gerade wieder Dein Referat zur »Intellektuellenfrage«, das Du am 7. Juli 1924 auf dem 5. Kongress der Kommunistischen Internationale gehalten hast. Zwei Gedanken darin bewegen mich. »Sie (die Kommunistische Internationale) darf der Krise des geistigen Lebens, der bürgerlichen Kultur nicht ruhig zusehen, die Hände in den Schoß gelegt. Sie muss dieser Krise statt eines negativen einen positiven Inhalt geben. An die Stelle des anarchischen, blind um sich greifenden Auflösungs- und Verwesungsprozesses der bürgerlichen Kultur muss treten der bewusste energische Kampf für die Ideologie des revolutionären Proletariats.« Sieht man von der Prognose, was das revolutionäre Proletariat und seine Ideologie angeht, ab, finde ich viel, was sich den heutigen Gesellschaften abspielt. Auch heute erleben wir einen blind um sich greifenden Auflösungs- und streckenweise sogar Verwesungsprozess bürgerlicher Kultur.

Für einen weiteren Gedanken finde ich in der heutigen Zeit ebenso Entsprechungen: »Sie (die Intellektuellenfrage) schreit uns aber auch entgegen aus der Seelennot von Zehntausenden und aber Zehntausenden, die in den Nöten des Lebens, in den Nöten dieser Zeit das frühere Ideal, eine sie tragende innere Kraft, verloren haben und nicht mehr imstande sind, ihr persönliches Erleben und Leiden im Zusammenhang mit dem großen geschichtlichen Geschehen zu begreifen und aus ihm Lebensenergie zu gewinnen.«

Wie oft höre ich, sehe ich, fühle ich, wie mir Menschen heute signalisieren: Wir sind müde, wir haben keine Kraft mehr. Der alltägliche Kapitalismus saugt den Menschen auch Lebensfreude und Energie aus. Und er ersetzt diese durch eine Plastik-Kultur, durch Schein-Werte und eine Moral, die in den Gedanken mündet: »Bereichert euch!«

Das heißt, wir Linken müssen nicht nur politische Ziele anstreben, sondern soziale Bindung, kulturelle Vielfältigkeit, respektvollen Umgang und Glaubwürdigkeit vorleben. Diesen Anspruch haben wir bis heute nicht verwirklicht. Wir dürfen ihn nicht aus den Augen verlieren, denn er ist einer der Anker in unserer eigenen Geschichte.