Spuren von Annie und Sini

geschrieben von Waltraud Bierwirth

5. September 2013

Kein Kinderspiel: eine Ortserkundung in Winterswijk

Jan.-Feb. 2012

Zu Beginn der deutschen Besatzung lebten etwa 140 000 Juden in den Niederlanden,

15 174 von ihnen waren nach 1933 aus Deutschland in die Niederlande emigriert und geflüchtet. Am 26. Juni 1942 begannen die Deportationen in den Osten. In 102 Transpor¬ten wurden in den folgenden 27 Monaten 107 000 Juden aus dem KZ Westerbork in die Vernich¬tungslager Auschwitz und Sobibor gebracht.

In einem eigenen Kapitel stellt Ursula Keim »Versteckmöglichkeiten und Hilfe« vor, die das Überleben von etwa 16 000 Juden in den Niederlanden, darunter mindestens 4 000 Kinder, sicherten.

Die Schwestern Annie (rechts) und Sini de Leeuw: Als Kinder überlebten sie im Versteck

Für alle, die den Weg nach Winterswijk nicht selbst machen können, gibt es die DVD Spurensuche, 30 Minuten Laufzeit, Preis: 38 Euro.

Das Studienheft, Teil 1 und 2, inklusive einer CD mit 68 Dateien mit Arbeitsblättern, Fotos und Karten, Preis: 32 Euro.

Bestelladresse in Deutschland: Sixtina Harris, Stichting Vrienden van Kolle Kaal, Gerhart-Hauptmann-Str. 27, 46325 Borken. Tel.: 02861- 61523

»Die Kinder wollten feststellen, ob das alles so stimmt«, erzählt Sixtina Harris, damals Hauptschullehrerin in Vreden am Niederrhein, nahe der niederländischen Grenze, wie vor fünfzehn Jahren alles begann. Die Georgschule absolvierte ihre Projektwoche und für den Deutschunterricht der Klassen 5 bis 8 bot Sixtina Harris das Thema: »Auf den Spuren von Annie und Sini in Winterswijk« an.

Den Lesestunden aus dem Jugendbuch von Johanna Reiss‘ »Und im Fenster der Himmel« folgte unverzüglich die Praxis. 24 Kinder radelten ins elf Kilometer entfernte holländische Winterswijk und Usselo und schwärmten aus. Wo hat die jüdische Familie de Leeuw damals gelebt? In welchem Haus wurden die Schwestern, Annie (10) und Sini (16), für drei Jahre versteckt? Wo war die älteste Schwester Rachel? Gibt es am Marktplatz noch den Baum, an dem die Nazi-Verordnungen für die Juden hingen?

Der ersten Schülergruppe der Georgschule folgten rasch weitere. Als im Jahr darauf die aus den USA angereiste Autorin Johanna Reiss mit ihren Schwestern die Georgschule besuchte, wussten die Schüler aller Klassen, wie die drei Schwestern de Leeuw drei Jahre untergetaucht und überlebt hatten. Sie alle hatten das Buch »Und im Fenster der Himmel« gelesen und erfuhren von der Autorin, wie aus der jungen Annie de Leeuw viele Jahre später in Amerika Johanna Reiss wurde und warum sie in Winterswijk nach den Jahren der Angst und des Versteckens nicht mehr bleiben mochte. Ihr Buch hat sie aus der Perspektive der damals Zehnjährigen für ihre beiden Töchter geschrieben.

Dass dieser Überlebensbericht bis heute ein breites Publikum findet und kürzlich bei dtv in der 27. Auflage erschien, hängt eng mit der Georgschule in Vreden und der rührigen Lehrerin Sixtina Harris zusammen. Den Durchbruch für Nachforschungen über das Schicksal jüdischer Kinder in der Nazi-Zeit schaffte Ende der 90-iger Jahre das NRW-Jugendprojekt »Brücken in die Zukunft«. Es war ein typisches Johannes-Rau-Projekt: Als damaliger NRW-Ministerpräsident rief er Schüler und junge Erwachsene dazu auf, die deutsch-jüdischen Beziehungen in Vergangenheit und Zukunft darzustellen. In Wort, Bild oder Ton. 400 Arbeiten wurden eingereicht, 17 veröffentlicht und in einer Ausstellung gezeigt, die der Georgschüler aus Vreden waren umfangreich mit dabei.

»Als auch noch das Fernsehen berichtete und unsere Arbeiten vorstellte, riefen immer mehr Lehrer und Gruppen an, die eine Exkursion nach Winterswijk planten und nach weiterem Material fragten«, erzählt Sixtina Harris. Aus einem deutschen Schulprojekt wurde eine grenzübergreifende Gedenkarbeit. Denn auch im holländischen Winterswijk sorgte das wachsende Interesse deutscher Schulklassen und Gruppen für neue Initiativen.

Die »Stichting Vrienden van Kolle Kaal« (Verein der Freunde von Kolle Kaal) mit Mitgliedern beiderseits der Grenze wurde gegründet. »Kolle Kaal« geht zurück auf das letzte Theaterstück der jüdischen Theatergruppe in Winterswijk und heißt übersetzt die »ganze Gemeinschaft.« Ziel der Stiftung ist, das Wissen über das Judentum, den Holocaust und das Geschehen in den Niederlanden während der Nazi-Zeit zu vermitteln.

Dafür wurde die Ausstellung »Kein Kinderspiel« in niederländisch und deutsch mit Unterstützung der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem erarbeitet. In fünfzehn Tafeln werden die Lebensumstände jüdischer Kinder in Europa vor dem Krieg, der schrittweise Entzug ihrer Freiheit und ihre Wege in Verstecke dargestellt. Der größte Anziehungspunkt für die Schulklassen aus Deutschland in Winterswijk ist jedoch die Führung »Auf den Spuren von Annie und Sini de Leeuw«.

Dieses Interesse hängt eng mit dem 145 Seiten starken Studienheft von Sixtina Harris und Ursula Keim zusammen. Das in zwei Teile gegliederte »Study Pack« richtet sich an Lehrer, macht Vorschläge für den Unterricht und für die Durchführung der Spurensuche zum Jugendbuch »Und im Fenster der Himmel«. Im umfassend recherchierten ersten Teil stellt Ursula Keim den historischen Kontext des Buches dar. Sie informiert mit dem Schwerpunkt Niederlande über die deutsche Besetzung, die Besatzungspolitik und die Judenpolitik der Nazis in den Niederlanden von 1940 bis zur Befreiung.

Im Durchschnitt begeben sich 35 Schulklassen alljährlich auf die Spurensuche in Winterswijk. Jeweils mittwochs, weil nur an diesem Tag eine Führung durch die Synagoge möglich ist. Fest auf einen Studientag in Winterswijk sind zum Beispiel die 7. und 8. Klassen der Gesamtschule Berger Feld in Gelsenkirchen abonniert. Sixtina Harris: »Den Kindern macht es Mut, dass es im Gegensatz zu Anne Frank für die Schwestern Annie und Sini ein Weiterleben gab.«