Stets wachsam bleiben

geschrieben von Die Fragen stellte Cornelia Kerth

5. September 2013

antifa-Gespräch mit Steffi Wittenberg zum Gedenken an die Pogromnacht
1938

Nov.-Dez. 2010

Seit Mitte der 1990er Jahre führt die VVN-BdA Hamburg alljährlich zur Erinnerung an das November-Pogrom vom 9. November 1938 eine Mahnwache am Ort der damals angegriffenen Hamburger Hauptsynagoge am Bornplatz (heute Josef-Carlebach-Platz) durch. Waren es am Anfang nur knapp 20 Teilnehmende, so finden sich in den letzten Jahren 100 und mehr Menschen zum Gedenken und Mahnen ein. Organisiert wird die Veranstaltung alljährlich von der VVN-Kameradin Steffi Wittenberg, die dafür auch die Jüdische Gemeinde und die Universität Hamburg als Mitveranstaltende gewinnen konnte. Steffi Wittenberg wird im nächsten Jahr ihren 85. Geburtstag feiern.

antifa: Steffi, es ist ja vor allem deinem enormen Einsatz und deinen vielfältigen guten Kontakten zu danken, dass unsere Mahnwache – neben der jährlichen Abendveranstaltung des Auschwitz-Komitees – einen festen Platz im Hamburger Gedenkjahr hat. Was bewegt dich, immerhin kurz vor deinem 85. Geburtstag, die inhaltliche und organisatorische Verantwortung für unsere Mahnwache zu übernehmen?

Steffi Wittenberg: Am 9. November 1938 hat die Naziführung der jüdischen Bevölkerung in Deutschland ihre Lebensgrundlage entzogen. Ihre Geschäfte wurden zerstört, die Synagogen angezündet, die Männer in Konzentrationslager gesteckt, den Kindern der Besuch allgemeinbildender Schulen verboten, sie waren auf die jüdischen Schulen angewiesen. Juden durften keine Theater, Konzerte, Kinos oder Schwimmbäder mehr besuchen. Die nicht-jüdischen Unternehmen entließen ihre jüdischen Angestellten und Arbeiter.

Ich war am 10. November auf dem Wege zur jüdischen Mädchenschule Karolinenstraße, als mir Kinder entgegenkamen und sagten: »Heute ist keine Schule, die Synagoge brennt.«

Zu Hause war große Aufregung. Dank der Vorsorge meiner Mutter waren mein Vater und mein Bruder schon im Oktober des Jahres mit einem Visum nach Montevideo, Uruguay ausgereist. Jetzt schliefen die in unserem Etagenhaus wohnenden jüdischen Männer bei uns, um der Verhaftung zu entgehen, da ja bei uns die Männer schon abgemeldet waren. Und das mit Erfolg. Die jüdische Mädchen- und Jungenschulen blieben zehn Tage geschlossen. Dann forderte die Gestapo die Wiedereröffnung. Dazu mussten die Lehrer aus dem Konzentrationslager entlassen werden. Sie kehrten zurück, kahl rasiert, hinkend und mit einem traurigen Blick. Diese Pogromnächte mit ihren Schrecken und auch Toten, diese sogenannte Reichskristallnacht darf nicht in Vergessenheit geraten. Deshalb engagiere ich mich für die jährliche Mahnwache der VVN solange meine Gesundheit es zulässt. In sehr viel früheren Zeiten als in den neunziger Jahren, organisierte die VVN große Demonstrationen zum Gedenken an die »Reichspogromnacht«, aber heute ist unsere Mahnwache auf dem Joseph-Carlebach-Platz in der gegenwärtigen Form sehr wichtig.

Sie liegt mir auch deshalb besonders am Herzen, weil ich die zerstörte Bornplatz-Synagoge besucht und den mutigen Reden des Oberrabbiners Joseph Carlebach zugehört habe, der mit seiner Frau und seinen drei jüngsten Mädchen 1942 in Riga ermordet wurde. Leider hat sich die Mehrheit der deutschen nicht-jüdischen Bevölkerung der NS-Diktatur gebeugt, mitgemacht, zugeschaut, denunziert.

Weil wir nie wieder die Verletzung der Menschenrechte geschehen lassen dürfen, müssen wir das Gedenken an diesen 9. November 1938, an die sogenannte Kristallnacht oder Pogromnacht wach halten und Jahr für Jahr daran erinnern. Und weil ich zu den wenigen gehöre, die diesen Tag auf Seiten der Opfer mitgemacht habe, wenn mir auch persönlich nichts zuleide getan wurde, deshalb befasse ich mich jedes Jahr wieder mit der Organisation unserer Mahnwache.

antifa: Warum ist dir gerade bei dieser Veranstaltung ein breites Bündnis aus Veranstaltern und Unterstützerinnen so wichtig?

Steffi Wittenberg: Wir wollen, dass Menschen aus unterschiedlichen Kreisen an der Mahnwache teilnehmen: Die Jüdische Gemeinde, deren Mitglieder einst die ersten Opfer dieses Terrors waren, die Studierenden und Professoren der in der Nähe der zerstörten Synagoge liegenden Universität, Mitglieder der Gewerkschaften, Schüler und Schülerinnen, die sich auch in der Schule mit dem Thema Judenfeindlichkeit und Fremdenfeindlichkeit befassen und noch viele andere. Wir gedenken gemeinsam nicht nur der Opfer des grausamen Verbrechens gegen die Menschlichkeit, sondern wir betonen durch unser breites Bündnis, unseren Willen stets wachsam zu sein: für ein friedliches Miteinander aller Inländer und Ausländer, Juden, Christen, Moslems und Atheisten, die sich für Wahrheit und Gerechtigkeit einsetzen.