Streiten für die Schwachen

geschrieben von Georg Chodinski

5. September 2013

Die Hamburger Antifaschistin Antje Kosemund erhält das
Bundesverdienstkreuz

Mai-Juni 2013

Langjährige Leserinnen und Leser der »antifa« und ihrer Vorgänger-Zeitschriften werden sich erinnern: »NS-Euthanasie am Beispiel meiner Schwester« war im Jahr 1998 ein ausführlicher Bericht von Antje Kosemund in der (West-)»antifa-rundschau« überschrieben. Verbunden mit der Schilderung der Vorgänge um die sterblichen Überreste der Nazi-Opfer war eine Erklärung des damaligen Bundesausschusses der VVN-BdA veröffentlicht, die sich gegen die »Bioethik-Konvention« des Europarates richtete. Mit dieser sollte zukünftigen medizinischen Experimenten an wehrlosen Menschen der Weg geebnet werden.

Dagegen muss ich heftig protestieren! – Das verletzt die Würde der Opfer!

Zwei Sätze, kurz und knapp. Sie beschreiben sehr trefflich Haltung und Anspruch von Antje Kosemund. Geschrieben hat Antje diese Sätze 1995 dem damaligen wissenschaftlichen Leiter des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes, Dr. Wolfgang Neugebauer, der ihr postwendend eilfertig versicherte, er nähme ihre Bedenken ernst.

Hätte Dr. Neugebauer Antje Kosemund besser gekannt, hätte er gewusst, was Antje mit »protestieren« meint. Antjes Protest bedeutet, sie ist bereit sich zu streiten für die Menschen, für die Sache, für ihr Anliegen. Und um all das ging und geht es ihr: Die Menschen, die Sache und um ein Anliegen.

Für diesen Protest wird Antje Kosemund in diesem Jahr mit dem Verdienstkreuz geehrt.

In der sogenannten »Gehirnkammer« des Psychiatrischen Krankenhauses »Baumgartner Höhe« lagerten seit 50 Jahren hunderte Gehirne von Euthanasieopfern der Nazis wie Eingemachtes in eingestaubten Gläsern. Sogar ein ganzer Kinderkopf war darunter- und das Gehirn von Antjes Schwester Irma Sperling. Irma war als 13jährige 1943 mit 227 anderen Frauen und Mädchen aus den Alsterdorfer Anstalten in Hamburg nach Wien verschleppt und dort 1944 ermordet worden. Das Unfassbare, gegen das Antjes Protest sich richtete: In Wien wurde erwogen diese »Gehirnkammer« zu einem öffentlichen Museum umzuwidmen.

Antje Kosemund empörte sich gegenüber den Wiener Behörden. Sie schrieb Briefe an die österreichische Gesundheitsministerin, an den Bundeskanzler und den Bundespräsidenten: »Das sind sterbliche Überreste von Nazi-Opfern. Es ist unmöglich, sie den voyeuristischen Blicken der Öffentlichkeit auszusetzen. Ich verlange, dass die sterblichen Überreste meiner Schwester und der anderen Opfer aus Hamburg überführt werden, damit sie in ihrer Heimatstadt beerdigt werden können. Nach längerem Hin und Her sind tatsächlich zehn Urnen in Hamburg angekommen, die haben wir dann am 8. Mai 1996 auf dem Ohlsdorfer Friedhof beigesetzt.« (aus taz 24.01.2010, »Später waren sie alle tot«). Eine würdige Beisetzung, die den Opfern etwas von dem zurückgab, was ihnen so lange verweigert wurde.

Und mehr noch- die »Gehirnkammer« wurde aufgelöst, die sterblichen Überreste aller in einem Ehrengrab auf dem Wiener Zentralfriedhof bestattet und unter dem Titel »Zur Geschichte der NS-Euthanasie in Wien« fand im Januar 1998 ein Symposium statt. »…ein spätes öffentliches Bekenntnis der österreichischen Psychiatrie zur eigenen Geschichte«, so Michael Wunder im Grußwort zu Antjes Broschüre »Spurensuche«. »Antje hat ein gut Teil dazu beigetragen, dass dies in Wien möglich und auch nötig wurde…Ihr und wenigen anderen ist es zu danken, dass das Thema des Umgangs mit der eigenen Geschichte und die Frage des würdigen Umgangs mit den 300 anderen Gehirnen der »Euthanasie«-Opfer in Wien bis heute [1998] zum Dauerthema der Presse in Österreich geworden ist.«

Antje Kosemund war über 20 Jahre Mitglied des Landesvorstandes der VVN-BdA. War – weil sie sich entschloss, im Herbst 2012 ihre Heimatstadt zu verlassen. Antje verlegte ihren Lebensmittelpunkt in die bergigen Höhen Tirols, um dort im Kreise ihrer Familie ihren vierten Lebensabschnitt zu genießen.

Wir haben sie vor ein paar Monaten nur ungern ziehen lassen, verdanken wir ihr doch viele Beiträge, von deren Drängen die Österreicher einiges zu spüren bekommen hatten. Ob nun in der Anti-AKW-Bewegung, in der Willy-Bredel-Gesellschaft, Wohn- und Ferienheim Heideruh oder als Zeitzeugin, in ihrem Engagement war und ist sie eine unermüdliche, aktive und vor allem hartnäckige Arbeiterin für die Wahrheit.

Seit ihrer Wiener Entdeckung hat diese Arbeit vor allem einen Schwerpunkt, die Gedenkarbeit für die lange vergessene Schwester Irma und die Opfer der »Euthanasie«-Morde der Nazis. Damit ist Antje auch heute noch ihrer Heimatstadt treu geblieben. Regelmäßig hält sie als Zeitzeugin für Medizinstudentinnen und -studenten der Hamburger Universität Vorlesungen am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin. Und jedes Mal ist der Saal voll. Ja, diese Vorlesung gehört zum Pflicht-Programm, doch Pflicht bekommt für die Studierenden in diesen knapp zwei Stunden eine andere Bedeutung. Ich haben sie vor ein paar Jahren erlebt, Antje mit diesen lernenden MedizinerInnen, als sie ihnen die Geschichte und Nachgeschichte ihrer Schwester erzählte. Erst füllte eine lange Stille des Zuhörens den Saal und dann kamen aus allen Reihen die drängenden Fragen: Warum? Wie war das genau? Und heute? Am Ende der Vorlesung war Antje immer noch von Neugierigen umringt, weil so viele ihre Antworten und Erkenntnisse suchten. Eine hat Michael Batz im von Antje angeregten Dokumentarstück »Spiegelgrund und der Weg dorthin« für uns festgehalten: »Wer die Schwachen umbringt, macht die Gesellschaft nicht stärker sondern mörderischer«.

Danke Antje, Du bist eine Ehre für Deine Heimatstadt Hamburg.