Wiedergänger am See

geschrieben von Ernst Antoni

5. September 2013

Josef Bierbichlers Roman »Mittelreich« geht ans Eingemachte

Nov.-Dez. 2011

Josef Bierbichler, Mittelreich, Suhrkamp Verlag Berlin, 392 S., 22,90 Euro.

Den Roman gibt es ungekürzt, gelesen vom Verfasser, auch als Hörbuch (10 Audio-CDs, 39,99 Euro)

Da gibt es die Geschichte von dem Knecht, der Dreck und Gestank nicht scheuend »in voller Montur« hinab in die Odelgrube gestiegen ist, um das Entlein zu retten. Jung und Alt verfolgt mit Anteilnahme, wie es dem Alten Sepp gelingt, das Tier, das nach hinten geschwommen war, »wo niemand es mehr sehen konnte, kein Locken und kein Bitten half«, wieder aus der Grube zu holen. Nach getaner Tat ist es allen warm ums Herz, auch den Leserinnen und Lesern des Romans.

»Oben hat ihm die Seewirtin das kleine Entlein abgenommen und hat es vorsichtig in ihrer hohlen Hand in den Stall getragen und da in ein Körbchen gesetzt.« Danach fordert sie alle auf, in die Küche zu kommen, »zu Feier des glücklichen Ausgangs dieses Ereignisses.« Dann geht die Seewirtin zurück in den Stall: »Dort holte sie das noch ein wenig ängstlich eingestellte Entlein aus der Kiste und dem warmen Stroh«, heißt es weiter, »und drehte ihm mit einem raschen Griff den Hals herum.« Es kommt in die Pfanne, »bruzzelte da in feiner Butter« und »jeder Mann und jede Frau und jedes Kind, alle die da waren, alle und jedes haben einen kleinen Bissen abbekommen.«

Josef Bierbichler versteht es in seinem Buch »Mittelreich« immer wieder, Publikumserwartungen zu irritieren. Die Hungerzeit nach dem Zweiten Weltkrieg ist ja schon vorbei, als die Entlein-Sache passiert. Gerade hatte uns der Autor mit einem kleinen historischen Kommentar die neue Ära erklärt: »Die ungemütliche Stellung des Kotaus wurde … gar nicht zu sehr strapaziert und nicht zu lang. Denn auch die Sieger konnten mit dieser gebückten Haltung auf Dauer wenig anfangen, weil aus ihr keine Energie zu ziehen und aus keiner Energie kein Gewinn zu schlagen war. Bald war man des Kotaus als dem Wesen des Hundes zugehörige, aber in bestimmten Situationen auch für den Menschen brauchbare Demutshaltung wieder überdrüssig, weil man erkannt hatte, auf beiden Seiten, dass kein neuer Staat damit zu machen war, und begann also, sich zügig wieder in den aufrechten Gang zurückzuverbiegen. Ein Führer, der diesen Gang vollends beherrschte, war schnell gefunden und mit ihm ein neuer Staat auch bald gegründet: der Adenauerstaat.«

»Mittelreich« erzählt satirisch-ironisch, nüchtern-sachlich, einfühlsam-psychologisch und, das hat man nicht so oft, knallhart-ökonomisch das Leben einer Wirtsfamilie am Ufer eines bayerischen Ausflugssees vom Beginn bis in die 80er-Jahre des 20. Jahrhunderts. Der Titel bezieht sich auf Besitz und Guthaben, andere Assoziationen sind möglich. Die Gegend ähnelt jener, in der Josef Bierbichler, angesehener Theater- und Filmschauspieler, ein ererbtes Gasthaus mit Umland sein eigen nennt. Manche meinen, in dem durch historische und familiäre Entwicklungen statt zum Opernsänger zum Wirt gewordenen Pankraz und dessen Sohn Semi des Autors Vater und diesen selbst zu erkennen. Autobiographische Belletristik also.

Warum auch nicht. Schlimm würde es für den Romancier nur, interpretierte man das, was er erzählt, als Faktensammlung. Das ist derzeit auch in »seriöseren« Medien nicht selten. Sepp Bierbichler müsste dann wohl untertauchen. Denn nach wie vor ist es streng verboten, sich für sexuellen Kindesmissbrauch an Internats-Geistlichen selbstjustiziell zu rächen. Und den so zu Tode Gebrachten dann mit metzgerischem Sachverstand in kleine Teile zu zerlegen.

Der Roman ist nicht arm an monströsen Geschichten. Sie wachsen heraus aus Anekdotischem, manchmal Lustigem, belasten die Beziehungen der handelnden Personen, Widergänger drängen nach Jahrzehnten an die Oberfläche. Sie haben zu tun mit dem Vernichtungskrieg im Osten, dem Massenmord an den Juden, mit Hass auf Fremde und Andersartige, zugedeckt von bigotter Frömmelei, gemütlicher Saturiertheit, wachsendem Wohlstand. Der Autor weckt auch Erinnerungen an andere Verdrängungen: die später als Heimatvertriebene hofierten Flüchtlinge etwa und deren diskriminierende Ablehnung durch die Alteingesessenen. Die konnte dann auf nicht »deutschstämmige« ausländische Arbeiter umgelenkt werden.

Mitte der 60er-Jahre sitzt ein Säufer in der Seewirtschaft und macht Parteipropaganda. Die einheimischen Stammtischler nehmen ihn zwar nicht ernst, aber: »Alle schauten sie mit Nachsicht. Keiner schaute feindlich.« »Die redeten viel deutlicher daher in vielen Dingen.«, heißt es weiter. »Und auch der Zacher hatte, als er von dem Zaun sprach vorher, den man gegen monopole Kommunisten würde bauen müssen, wenn sie einem den Besitz wegnehmen wollten, an die NPD-Partei gedacht. Als Stacheldrahtpfosten hatte er die N-Partei sich vorgestellt. Der Stacheldraht hätte ruhig ein christlicher sein dürfen, der schaut ja eh wie eine Dornenkrone aus. Nur die Pfosten halt, die den Draht auf Spannung halten, die hätte er sich schon stabil gewünscht, wenn es soweit kommen sollte. Aber solange es so weit noch nicht gekommen war, langte ihm die Christ-Partei auch für die Pfosten. Hauptsache, die Kommunisten und die Fremden kommen nicht zu nah heran.«