Woher diese Verrohung?

geschrieben von Regina Girod

5. September 2013

Menschenverachtung als Alltagsphänomen

Sept.-Okt. 2011

Die Studie der Universität Bielefeld findet sich unter www.uni-bielefeld.de/ikg/zick/selbstd.htm

In Berlin tobt der Wahlkampf, gleich drei rechte Parteien buhlen um die Gunst der Wähler. Neben der NPD treten erstmals »Die Freiheit« und »pro Deutschland« an. Ganz oben an den Laternen hängen ihre Plakate: Eine verschleierte Frau hinter Gittern, darüber in Schwarz-Rot-Gold der Namenszug »pro Deutschland«, darunter der markige Spruch »Unsere Frauen bleiben frei«. Schönen Dank auch, möchte man hinaufrufen. Wahrscheinlich ist den Machern des Plakats nicht einmal aufgefallen, dass das »Gewähren« von Freiheit Frauen genauso zu Objekten macht wie deren Einschränkung. Sie gehen einfach nur auf Wählerfang. Islamfeindschaft, Nationalismus und Frauenverachtung – in einem Bild vereint – scheinen ihnen dafür angemessen.

Doch es geht noch schlimmer. Die »Gas geben!« Plakate der NPD vor jüdischen Einrichtungen in Berlin stellen eine ungeheuerliche, nie da gewesene Provokation dar. Gegen sie erscheint der Straftatbestand »Holocaustleugnung« geradezu harmlos, denn hier wird nicht geleugnet, sondern Zustimmung signalisiert – zur industriellen Vernichtung von Millionen Menschen. »Wir trauen uns was«, lautet die Botschaft der NPD an ihre potentiellen Wähler. Und sie propagiert – unter dem durchsichtigen Gewand spielerischer Assoziation – eine bodenlose Menschenverachtung. Wer das nicht mehr spürt, hat sich bereits von grundlegenden Werten verabschiedet. Was tun gegen das beklemmende Gefühl, dass auch in diesem Fall die Botschaft ihre Adressaten finden wird?

Wer da glaubt, dies betreffe, wie schon immer, nur einen kleinen Kreis beschränkter Radikaler, der irrt. Die Leserbriefe in »seriösen« Blättern zum Thema: » Romafamilien kampieren im Görlitzer Park«, das im August die Stadt beschäftigte, sprechen eine andere Sprache und illustrieren eindrucksvoll, was eine Studie der Universität von Bielefeld jüngst in dem Satz zusammenfasste: »Das Bürgertum verroht«. Demnach nehmen Islamfeindlichkeit und rechtpopulistische Einstellungen besonders unter Menschen mit höherem Einkommen zu. Doch warum? Was hat einen solchen Werteverlust, der jetzt sogar schon von den Medien heuchlerisch betrauert wird, in Gang gesetzt?

Die Antwort ist so einfach wie ernüchternd: Das Phänomen ist eine Folge der offiziellen Politik, speziell des neoliberalen Umbaus der Gesellschaft. Der Abschied vom Sozialstaat, begründet mit der Lüge, er sei nicht länger zu bezahlen, wird ideologisch von einer »Nützlichkeitsdebatte« flankiert, die jeden, der aus welchem Grund auch immer auf Unterstützung angewiesen ist, gnadenlos abwertet. Nicht nur in Boulevardzeitungskampagnen, sondern ganz bewusst im organisierten Handeln des Staates. Wer einmal »Kunde« einer Arbeitsagentur war, weiß wie es hinter deren Türen um Bürgerrechte und Menschenwürde bestellt ist. Doch das ist noch gar nichts gegen die Behandlung, die etwa den Klienten der Ausländerbehörden zugemutet wird. Wer erfahren will, was staatliche Arroganz und Willkür bedeuten, sollte einmal einen geduldeten Asylbewerber zu seinem turnusmäßigen Termin begleiten. Ich habe es getan.

Nach langem Warten und einer würdelosen Prozedur standen wir endlich vor der zuständigen Bearbeiterin. »Sie sind ja immer noch nicht in der Lage, ein ausreichendes Einkommen für Ihre Familie zu erarbeiten!«, kommentierte die den Umstand, dass das bosnische Ehepaar, das mit seinen Töchtern bereits zwei Jahre von eigener Arbeit und ohne jede staatliche Unterstützung lebte, dabei jedoch – was Wunder – nicht das vorgeschriebene Mindesteinkommen erzielte (das höher ist als der Regelsatz von Hartz-4). Und sie verlängerte die Duldung der seit 16 Jahren in Deutschland lebenden Familie nicht wie erwartet um ein Jahr, sondern nur um sechs Monate. Ein Amtsakt, der zu bezahlen ist. Jedes Mal wieder.

Ein Ausländer ist noch weniger wert, als ein Hartz-4-Empfänger. Doch beide sind beständig des Schmarotzertums verdächtig und müssen auch so behandelt werden. Das ist die Botschaft, die der Staat in die Gesellschaft sendet. Ausgrenzung, Abwertung und Verachtung werden von ihm vorgelebt. Warum sollte der Bürger die Ideale von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit hochhalten, oder weiter den Geboten der Nächstenliebe folgen? Entsolidarisierung ist angesagt.

Und dass gerade jene, die zu den »Leistungsträgern« zählen, diesem Ruf auch folgen, leuchtet ein. Sie können davon profitieren und nehmen rassistische, sozialdarwinistische oder nationalistische Begründungen für ihr Verhalten dankbar auf.

Schlimme Aussichten, wenn man bedenkt, dass die wirklichen Krisen noch vor uns stehen.