Integration und Emanzipation

geschrieben von Heinrich Fink

9. September 2013

Eine Erinnerung an den unbequemen Mahner Ernst Klee

Juli-Aug. 2013

Ernst Klee hat es vermocht, Momente eines »Wir-Gefühls« zu schaffen unter Menschen, die die Umwelt als invalid ansieht und die sich als Reflex darauf gelegentlich selbst so wahrnehmen. 1980 hatte ein schrecklicher Jurist am Frankfurter Landgericht einer Frau Schadensersatz zugesprochen. Sie hatte erfolgreich gegen die Anwesenheit von Behinderten im Urlaubshotel geklagt. Das führte mit 5000 Teilnehmern zur größten Demonstration von Behinderten in der Geschichte der Bundesrepublik.

Literaturpreise und Auszeichnungen: Adolf-Grimme-Preis (1982), Geschwister-Scholl-Preis (1997) des Verbandes Bayrischer Verlage und Buchhandlungen und der Stadt München, Goethe-Plakette der Stadt Frankfurt am Main (2001), Die westfälische Schule für Körperbehinderte in Meppingen wurde 2005 umbenannt in Ernst-Klee-Schule, Wilhelm Leuschner-Medaille des Landes Hessen (2007)

Ende Mai ist Ernst Klee im Alter von 71 Jahren in Frankfurt/M gestorben. Er hat ebenso unermüdlich wie unerbittlich die nachweislich sorgsam in Vergessenheit gebrachten Akten über »Euthanasie-Morde« im faschistischen Deutschland und in allen im Zweiten Weltkrieg besetzten Ländern gesucht, durchforstet, sie sorgfältig interpretiert und in Artikeln und Büchern öffentlich zugänglich gemacht. Klee hat sich beharrlich durch Aktenberge »gelesen«, obwohl es, wie er oft betonte, für seine Ergebnisse kein ernsthaftes öffentliches Interesse gegeben hat. Von 1973 bis 1982 hatte der studierte Theologe und Sozialwissenschaftler einen Lehrauftrag für Behindertenpädagogik an der Fachhochschule in Frankfurt/M. Er trat aber auch als Journalist nachdrücklich für die Rechte gesellschaftlich ausgegrenzter Gruppen ein: Obdachlose, Psychiatriepatienten, Behinderte – Kinder wie Erwachsene, später auch für die Rechte von Gastarbeitern, gegenüber denen sich auch die beiden großen Kirchen fatal reserviert verhielten und die Arbeiterwohlfahrt ziemlich hilflos war. Klee forderte, dass sie nicht nur lindern, sondern die sozialen und politischen Ursachen analysieren sollten und für Integration und Emanzipation des »Subproletariats« sorgen müssten.

1981 wurde Klees Film: »Verspottet – Über das Leben einer Kleinwüchsigen« mit dem Adolf-Grimme-Preis ausgezeichnet. Zuvor hatte Ernst Klee die Bücher »Der Zappler. Der körperbehinderte Jürgen erobert seine Umwelt; Ein großes wagemutiges Abenteuer« und »Behindert sein ist schön. Unterlagen zur Arbeit mit Behinderten« veröffentlicht. Danach erschien sein zweibändiges Fischer-Taschenbuch »Behinderten-Report«. »Unser Mitarbeiter Ernst Klee hat das wichtigste, umfassendste, schonungsloseste Buch über Behinderte herausgebracht«, hieß es seinerzeit in einer Ankündigung des Verlages. Zusammen mit Gusti Steiner legte Klee damals den Grundstock für die bundesdeutsche emanzipatorische Behinderten-Bewegung und forderte einen gesellschaftlichen Paradigmenwechsel hin zur Gleichberechtigung von Behinderten. Er meinte, dass nur so eine demokratische Wiedergutmachung dessen, was Ärzte, Juristen, Verwaltungen, Nazipolitiker und schweigende Kirchen den Behinderten mit den Euthanasiegesetzen angetan haben, möglich wäre.

Im Herbst 1973 verblüffte Klee die Frankfurter Öffentlichkeit damit, dass er einen Volkshochschulkurs für Behinderte und Nichtbehinderte zum Thema: »Bewältigung der Umwelt« ankündigte. 1974 erregten die Kursteilnehmer Aufsehen dadurch, dass sie durch eine Rollstuhlblockade eine zentrale Straßenbahnlinie vorübergehend lahmlegten. Klee hielt es für inzwischen unbedingt notwendig, die stillschweigend beschönigte Mittäterschaft speziell von Ärzten bei NS-Verbrechen konsequent öffentlich zu machen. Gegen seine gründlichen Aktenstudien konnte man zwar protestieren, sie waren aber nicht zu widerlegen. Klee war der Meinung, dass seit den vernichtenden Aktionen gegen »lebensunwertes Leben« noch kein grundlegendes Umdenken stattgefunden hätte, weil die Mordaktionen gegen Behinderte, Roma, Sinti und Juden verharmlost wurden, zum Beispiel dadurch dass nach 1945 Ärzte und akademische Lehrer unbescholten im Amt verbleiben durften, obwohl sie aktiv an Vernichtungsaktionen oder akademischer Forschung im Dritten Reich beteiligt waren.

Ernst Klee hat nie aufgehört, die Täter der deutschen rassistischen Vernichtungsmaschinerie öffentlich auch namentlich zu benennen. Er hoffte, dass sich durch Aufklärung über die Brutalität der Verbrechen gegen die Menschenwürde demokratische Gesinnung herausbilden könnte. Alle seine Bücher sind das Ergebnis von zeit- und kräfteraubender Arbeit in verstaubten Archiven. Er war einer der ersten, die nachweisen konnten, dass der Krankenmord im besetzten Polen begann. Bereits 1987 drehte er einen Dokumentarfilm für den Hessischen Rundfunk: »Sichten und Vernichten« im Fort VII, dem Ort der ersten Vergasung im Dritten Reich. Das Buch »Dokumente zur Euthanasie« war 1985 erschienen. Für »Auschwitz, die NS-Medizin und ihre Opfer« (1997) bekam er als erster Wissenschaftler den Geschwister-Scholl-Preis. In seiner Dankesrede zählte Klee unbeirrt mehrere SS-Größen auf, die trotz nachgewiesener Verbrechen nach 1948 Kariere machen konnten. Zum Beispiel hätten sich die Mediziner, die mit ihren Rassetheorien das Massenmorden an sogenannten Nichtariern begründeten – also die Rassehygieniker – sich nach 1945 stillschweigend aber karierewirksam in »Humangenetiker« umbenennen dürfen.

Mein kurze Würdigung kann den Verlust dieses redlichen Mahners nicht annähernd beschreiben. Darum möchte ich alle Leser bitten, dass antifaschistische Lebenswerk von Ernst Klee dadurch zu würdigen, dass wir sein in Büchern und Filmen dokumentiertes Engagement aufmerksam zu Kenntnis nehmen und in unseren Argumenten lebendig bleiben lassen. Im August diesen Jahres erscheint sein letztes noch von ihm autorisiertes Buch: »Auschwitz – Täter, Gehilfen, Opfer: Ein Personenlexikon.«