Worüber reden ‒ wofür streiten?

geschrieben von Markus Roth

5. September 2015

Gewissheiten der Flüchtlingsabwehr

 

Keine Stunde vergeht derzeit ohne einen Beitrag zur Flüchtlingspolitik. Dabei geht es zumeist um die steigende Anzahl von Asylsuchenden und um staatliche oder private Verantwortung bzw. um die Abwesenheit selbiger. Nahezu alle gesellschaftlichen Akteure mit Sendungsbewusstsein beteiligen sich an diesem Pro-Contra-Asyl-Diskurs. Statt aber über globale Macht- und Ausbeutungsverhältnisse, über Konsequenzen des Kolonialismus und über die Universalität von sozialen Rechten einen breiten Diskurs führen zu können, wird uns eine eigentümlich verkürzte Debatte aufgedrückt, die weit von der globalisierten Wirklichkeit entfernt ist. Aus der Rechtfertigungsecke ist man gezwungen, die simpelsten Gemeinplätze zu verteidigen: Nein, Deutschland nimmt weltweit nicht die meisten Flüchtlinge auf … Nein, Asylbewerber bekommen nicht mehr Sozialleistungen als Hartz4-Empfänger … Nein, Menschenwürde gilt nicht nur für Menschen mit deutschem Pass … Nein, Rassismus in all seinen Varianten ist nicht hinnehmbar.

 

Selbstverständlichkeiten des 21. Jahrhunderts

Hierzulande will man es offenbar nicht wahr haben, dass sich massenhaft Leute auf der Flucht vor ihren eigenen Lebensumständen befinden und dass diese Umstände zu einem guten Teil von denen verantwortet werden, die ihre Folgen nicht tragen wollen. Und eine weitere Selbstverständlichkeit sollte sich auch hier rumsprechen: In einer Welt, in der Millionen Warencontainer frei zirkulieren können, werden sich Menschen wohl kaum durch technische Barrieren an der Verbesserung ihrer (Über-)Lebens-chancen hindern lassen. Es ist doch nicht verwunderlich, dass sich die Suche nach einem besseren Leben an eine (westliche) Vorstellung klammert, die als »freiheitliche Überflussgesellschaft« zwar überall propagiert wird, an deren subjektiver Verwirklichung aber der Großteil der Welt gehindert werden soll. Wer die individuelle Freiheit feiert, der muss denen, die diese für sich suchen, Schutz gewähren.

Die Toten im Mittelmeer, die polizei-militärischen Auseinandersetzungen an den Landgrenzen der Europäischen Union, die Tumulte an den überwunden geglaubten Grenzen innerhalb der EU (z.B. am Eurotunnel) aber auch das kommunal verantwortete Elend, das in den Flüchtlingszeltlagern deutscher Städte herrscht, sollten allerdings nicht als Ausdruck von selbstbestimmten Fluchtbewegungen wahrgenommen werden, sondern einerseits als Konsequenz sich verschärfender Konflikte im europäischen Nahumfeld und andererseits als pure Rache an denen, die es wagen sich nicht ihrer unterprivilegierten Rolle in der Welt zu fügen.

 

Kontinuitäten in der Migrationspolitik

Wenn sich der Rassismus von unten und oben konjunkturbedingt die Hände reicht, werden – das ist die Lehre aus 1990er Jahren – für Jahrzehnte Fakten geschaffen. Freital, Meißen, Heidenau – die Debattenbeiträge der Neonazis begleiten auch heute wieder einen Anti-Flüchtlings-Gesetzgebungsprozeß, der dem vor über 20 Jahren in Nichts nachsteht. »Steuern und Begrenzen« sowie »Abbau des Vollzugsdefizits« sind die Leitlinien des Projekts »Asylrechtsverschärfung«, das seit Jahren von der »AG-Rück« im Bundesinnenministerium forciert wird, und nun mit dem Rückenwind von AfD, Pegida und den Bildern inszenierter Unterbringungsnotstände, durchgesetzt wird. Zunächst wurde die Liste der Herkunftsländer, aus denen überhaupt Menschen hierher fliehen »dürfen«, weiter verkürzt. Gleichzeitig wurde auf europäischer Ebene zementiert, dass vor allem die Staaten an den Außengrenzen den Großteil der Flüchtlinge aufzunehmen haben. Das im August in Kraft getretene Gesetz zur Aufenthaltsbeendigung ist dafür gedacht, sich all jener zu entledigen, die »offensichtlich unbegründete« Asylanträge stellen und auch nicht gerade im Fokus des kommenden wirtschaftsfördernden »Facharbeiter-Zuwanderungsgesetzes« stehen. Im Wesentlichen wird damit die Inhaftierung abgelehnter Asylsuchender und derjenigen ermöglicht, die ihren Asylantrag in einem anderen EU-Land gestellt haben. Ob abgeschoben oder freiwillig ausgereist, wer in Deutschland »unbegründet« einen Asylantrag gestellt hat, wird zudem mit einem Einreiseverbot sanktioniert. Auf der anderen Seite gibt es für einen kleinen Teil gut Ausgebildeter Lockerungen beim Arbeitsverbot und Möglichkeiten für ein Bleiberecht. Ein Placebo für die kritische Öffentlichkeit.

 

Auch in der aktuellen Flüchtlingsdebatte heißt, es Ruhe zu bewahren und auf mehr oder weniger simplen Wahrheiten zu beharren: Doch, es ist möglich, auch 800.000 Flüchtlinge in Deutschland menschenwürdig unterzubringen und ihnen eine Perspektive zu geben … Doch, bei der Flucht nach Europa müsste niemand sterben … Doch, es ist sehr wohl möglich die Situation in den Herkunftsländern zu verbessern.