Der Widerstand in ganzer Breite

geschrieben von Elisabeth Abendroth

25. September 2019

Wertschätzendes Erinnern in Frankfurt/Main

Zur diesjährigen Gedenkfeier an den 20. Juli 1944 hatte in Frankfurt am Main Oberbürgermeister Peter Feldmann als Hauptredner Thomas Karlauf, Autor eines viel diskutierten, aktuellen Buches über Claus Schenk Graf von Stauffenberg in die Paulskirche eingeladen, das den missglückten Staatsstreich vor allem aus Stauffenbergs Wurzeln im ästhetizistisch-elitären Kreis um den Dichter Stefan George ableitet, zugleich aber den großen Mut des Attentäters ehrt. Wie die meisten Reden zum 20. Juli bezog sich auch Karlauf fast ausschließlich auf die wenigen militärischen Akteure, doch seine Rede war eine der besten der vergangenen Jahre, auch weil er, stellvertretend für alle, die früher gehandelt haben, auf Georg Elser und seinen Attentatsversuch am Abend des 8. November 1939 im Münchner Bürgerbräukeller verwies.

Als Tochter eines schon vor 1933 aktiven Hitlergegners und späteren griechischen Partisanen, fühle ich mich vor allem denen verpflichtet, die lange vor Stauffenberg den Nazis Widerstand entgegengesetzt haben. In Frankfurt am Main z. B. gab es nicht nur den zivilen Unterstützerkreis des 20. Juli, der vor allem an Wilhelm Leuschners Netze anknüpfte; es gab von der ersten Stunde an den Widerstand der Kommunisten, Sozialisten, Sozialdemokraten, Gewerkschafter.

Elisabeth Abendroth, geb.1947, Sozialwissenschaftlerin, war tätig u.a. im Frankfurter Kulturamt, Institut für Stadtgeschichte, Hessischer Staatskanzlei und Hessens Ministerium für Wissenschaft und Kunst; konzipierte und realisierte, meistens in Zusammenarbeit mit Organisationen, Initiativen und Institutionen, zahlreiche Projekte und Aktivitäten zu Verfolgung und Widerstand.

Elisabeth Abendroth, geb.1947, Sozialwissenschaftlerin, war tätig u.a. im Frankfurter Kulturamt, Institut für Stadtgeschichte, Hessischer Staatskanzlei und Hessens Ministerium für Wissenschaft und Kunst; konzipierte und realisierte, meistens in Zusammenarbeit mit Organisationen, Initiativen und Institutionen, zahlreiche Projekte und Aktivitäten zu Verfolgung und Widerstand.

Viele von ihnen wurden schon 1933 verhaftet; viele haben nicht überlebt. Stellvertretend erinnere ich an Ruth Cohnstädt und Bertl Pitschner, die sich unter dem Eindruck von Verhaftung und Verfolgung 1934 und 1937 das Leben nahmen, und an Emil Carlebach und Willy Eucker (später: Emcker), die nahezu ihre gesamte Jugend in Kerkern und Konzentrationslagern verbringen mussten. Ich erinnere an die spektakuläre »Autobahn-Aktion« der Frankfurter Gruppe des Internationalen Sozialistischen Kampfbunds (ISK); unter ihnen Ludwig Gehm, der Zuchthaus, KZ, Strafbataillon 999 überlebte und zu den griechischen Partisanen desertierte. Es gab den Widerstand kirchlicher, in Frankfurt besonders katholischer Kreise, die sich, z.T. offen »von der Kanzel herab«, mit Verfolgten solidarisierten. Es gab eine aktive Gruppe der Quäker, die Unterstützung und Ausreisen für jüdische Verfolgte organisierte. Es gab die »Swing-Heinis«, wie die Nazis sie nannten, jugendlich-unangepasste, Jazz-liebende Freundeskreise, unter ihnen der Saxophonist Emil Mangelsdorff, der einige Wochen in Gestapo- und Polizeihaft gesessen hat.

Es gab widerständige Gruppen in der Frankfurter Bündischen Jugend und in der katholischen Jungschar. Ich erinnere an Bernhard Becker, der im Dezember 1937 erhängt in seiner Gefängniszelle gefunden wurde. Es gab die Frankfurter »Edelweißpiraten«, unter ihnen Wolfgang Breckheimer, dessen Mutter im Juli 1943 in Auschwitz ermordet wurde. Es gab schließlich auch in Frankfurt einige Menschen, die ganz einfach aus Menschlichkeit Juden und politisch Verfolgte geschützt, ihnen bei der Flucht geholfen, sie versteckt haben. Zwei Frankfurterinnen, die Sozialarbeiterin und Übersetzerin Rose Schlösinger, ermordet im August 1943, und die Künstlerin Elisabeth Schumacher, ermordet im Dezember 1942, waren aktiv im Freundeskreis der »Roten Kapelle«. Sie waren längst hingerichtet, als die Stauffenberg-Brüder begannen, konkrete Schritte zu planen.

Eine allen Frankfurter Widerständler*innen gewidmete Gedenktafel an der Paulskirche erinnert an die Anfang Juni 1944 in Berlin-Plötzensee auf persönlichen Befehl Hitlers hingerichtete Johanna Kirchner, Sozialdemokratin, im Saarland, später in ganz Frankreich aktiv in der Fluchthilfe für Verfolgte. Nach ihr hat der damalige Oberbürgermeister Andreas von Schoeler eine Medaille benannt, mit der die Stadt Frankfurt am Main (nach meiner Kenntnis als einzige Stadt in Deutschland) 1991 bis 1995 174 überlebenden Widerständler*innen und Helfer*innen von Verfolgten für ihre Haltung im NS gedankt hat. Viele von ihnen haben Zeitungs-, Rundfunk- und Fernsehinterviews gegeben und in Schulen, Universitäten, Gewerkschaftsgruppen und Kirchengemeinden als Zeitzeug*innen berichtet. Meines Wissens ist der 94jährige Emil Mangelsdorff, der bis heute mit seinen »Gesprächskonzerten« vor neuem Faschismus warnt, der letzte lebende Träger der Johanna Kirchner Medaille.

An einige von ihnen sowie andere Wider-ständler*innen aus Hessen erinnerte am 20. Juli im Foyer der Paulskirche eine informative Ausstellung der VVN/BdA.

Auf seinen wertschätzenden Umgang mit den Hitler-Gegner*innen kann Frankfurt am Main stolz sein. In fast allen anderen westdeutschen Städten wurden die Widerstandskämpfer*innen »von unten« nicht geehrt, sondern beschwiegen. Der Widerstand »ganz normaler« Kolleg*innen und Nachbar*innen ließ und lässt sich eben nicht so leicht zur eigenen Exkulpation missbrauchen, zeigt er doch: Es stimmt nicht, dass »man nichts tun konnte«. Man konnte etwas dagegen tun. Hätten früh genug mehr Menschen etwas dagegen getan, hätten die Widerständler*innen nicht Leib und Leben riskieren müssen; der Holocaust und der Zweite Weltkrieg wären der Welt erspart geblieben.