Nürnberger Rassengesetze

geschrieben von 
Ulrich Schneider

30. September 2020

Vor 85 Jahren wurde Antisemitismus zum Gesetz

 Unmittelbar mit der Errichtung der faschistischen Herrschaft konnte man im Deutschen Reich antijüdische Ausgrenzungen durch die Boykottaktion am 1. April 1933, das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933, die Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 und die Gleichschaltung von Organisationen erleben. Das verstärkte sich mit öffentlichen Verfolgungen bis zum Sommer 1935.

Solche Maßnahmen zielten nicht nur auf die gesellschaftliche Ausgrenzung jüdischer Menschen, sondern auch auf die ideologische Vorbereitung der deutschen »Volksgemeinschaft« zur Regelung der »Rassenfrage«. Die Grundlagen dafür hatte der NSDAP-Reichsparteitag am 15. September 1935 gelegt. Dort wurden die »Nürnberger Rassegesetze« verkündet. Dazu gehörten das »Reichsbürgergesetz« und das »Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre« (Blutschutzgesetz).

In typischem Juristendeutsch wurde der »Reichsbürger« neu definiert. Die Person musste »deutschen oder artverwandten Blutes« sein und außerdem durch ihr Verhalten beweisen, dass sie »gewillt und geeignet ist, in Treue dem Deutschen Volk und Reich zu dienen.« Die politische Komponente richtete sich gegen alle politischen Gegner und insbesondere die Emigranten. Die rassistische Komponente grenzte jüdische Menschen, aber auch Sinti und Roma aus der Gruppe der »Reichsbürger« aus. Sie seien nur Angehörige des Staates und damit Bürger 2. Klasse. Die Erste Verordnung zum »Reichsbürgergesetz« konkretisierte: Juden können nicht Reichsbürger sein, haben kein politisches Stimmrecht und können kein öffentliches Amt bekleiden. Selbst jüdische Beamte, die noch als ehemalige Kriegsteilnehmer im Amt geblieben waren, wurden zum Jahresende in den Ruhestand versetzt. Das »Reichsbürgergesetz« bildete die Grundlage für die immer weiter fortschreitende Diskriminierung, Ausgrenzung, Entrechtung und Vernichtung der Existenzgrundlage jüdischer Menschen.

Das »Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre« (mit seiner Präambel: »Durchdrungen von der Erkenntnis, dass die Reinheit des deutschen Blutes die Voraussetzung für den Fortbestand des deutschen Volkes ist«) regelte auf ganz subtile Weise die gesellschaftliche Ausgrenzung jüdischer Menschen, indem ihnen nämlich der familiäre Zusammenhalt in der Gesellschaft verweigert wurde. Dieses Gesetz verbot die Eheschließung sowie den außerehelichen Geschlechtsverkehr zwischen Juden und Nichtjuden. Verstöße gegen das Gesetz galten als »Rassenschande« und sollten mit Gefängnis beziehungsweise Zuchthaus bestraft werden. Das Gesetz wurde später auch auf bestehende Familien angewandt und sogenannte Mischehen unter Druck gesetzt, dass sich die Partner auf der Grundlage dieses Gesetzes trennen sollten. Das »Blutschutzgesetz« mit seinem Straftatbestand der »Rassenschande« war Grundlage für zahllose Denunziationen und für Bestrafungen sonst unbescholtener jüdischer Bürger. Das Verbot galt auch für im Ausland begangene »Rassenschande«.

Wer war aber nun im Sinne des Gesetzes »Jude«? »(Voll)Jude« war, wer von mindestens drei jüdischen Großeltern abstammte. Als Bürger minderen Rechts galten auch »Mischlinge ersten Grades« mit einem oder zwei jüdischen Großeltern, die der jüdischen Religionsgemeinschaft angehörten oder mit einem »Volljuden« verheiratet waren. In der Nazidiktion wurden sie später als »Geltungsjuden« bezeichnet. Als Hilfestellung erhielten Ende 1935 alle Stan-
desämter und Behörden Bildtafeln zum »Blutschutzgesetz«, auf denen alle möglichen Kombinationen von »Halb-«, »Viertel-« oder »Achteljuden« und ihre Möglichkeiten zur Eheschließung als Grafik erläutert wurden.

Wie viele Menschen diese Diskriminierungen betrafen, können Zahlen – wenn auch ungesicherte – für das Jahr 1933 zeigen: Damals lebten im Deutschen Reich etwa 500.000 »Volljuden«, 2.000 »Dreivierteljuden«, 210.000 »Halbjuden« und 80.000 »Vierteljuden«, zusammen 792.000 Menschen mit jüdischer Herkunft. In weiteren Verordnungen wurden die diskriminierenden Gesetze auf andere Gruppen ausgeweitet. Ein Rundschreiben aus dem Reichsinnenministerium vom Januar 1936 nennt dabei explizit »Zigeuner«, Mischlinge »mit zur Hälfte artfremdem Blut« und »Neger«.

Damit die Verwaltungen »Rechtssicherheit« hatten, veröffentlichten Wilhelm Stuckart, SS-Jurist, und Hans Globke, Verwaltungsjurist im Reichsinnenministerium, 1936 einen juristischen Kommentar zu den Nürnberger Rassegesetzen. Er lieferte die verbindlichen Definitionen und erschien bis in die Kriegsjahr in mehreren Auflagen. Nach dem Krieg wurde Stuckart 1948 im »Wilhelmstraßen-Prozess« verurteilt. Globke konnte seine Karriere als Beamter im Höheren Dienst fortsetzen und war von 1953 bis 1963 Kanzleramtsminister bei Konrad Adenauer.

Durch den Kommentar legitimiert konnten noch zahlreiche deutsche »Volksgenossen« in den Behörden und Ämtern nach der Befreiung 1945 erklären, man habe doch nur »nach Recht und Gesetz« gehandelt. Mit der Judenverfolgung selber habe man nichts zu tun gehabt. Auch daran muss anlässlich des 85. Jahrestags erinnert werden.

Zum Weiterlesen:

Alexandra Przyrembel, »Rassenschande«. Reinheitsmythos und Vernichtungslegitimation im Nationalsozialismus, Göttingen 2003 (Schriftenreihe des Max-Planck-Instituts für Geschichte 190)

Eine gute Zusammenstellung von Dokumenten zum Thema findet sich in: Pätzold, Kurt (Hrsg.), Verfolgung – Vertreibung – Vernichtung, Dokumente des faschistischen Antisemitismus 1933 bis 1942, Reclam, 
Leipzig 1983