Ein Buch gegen das Vergessen

geschrieben von Lisa Thomsen

6. November 2021

Schicksale der über 300 durch Neonazis Ermordeten

Mehr als 300 Menschen wurden nach dem 2. Weltkrieg in Deutschland durch rechte Gewalttäter*innen ermordet. Weit mehr, als von offizieller Stelle anerkannt sind. Eine vollständige Dokumentation dieser Taten fehlte bisher. Entstanden aus dem Twitter-Account »KeinVergessen«, wird mit dem Buch diese Lücke nun endlich geschlossen und dafür Sorge getragen, dass die Opfer nicht vergessen werden.

Dabei hat der Autor Thomas Billstein es geschafft, ein sachliches, aber zugleich hochemotionales Buch zu schreiben. Es sind die sorgfältig recherchierten Fakten, die berühren, und jedes einzelne Schicksal zu der Tragödie machen, die es ist. Die Geschichte jedes einzelnen Opfers bekommt hier ihren Platz. Manchmal ist von den Menschen nur wenig bekannt, manchmal mehr. Und manchmal konnte nicht einmal mehr der Name herausgefunden werden, was es nicht weniger eindrücklich macht.

Deutlich wird, dass hinter jeder anonymen Zahl in der Statistik ein Menschenleben steht. Die Opfer werden aus dieser Anonymität herausgenommen, bekommen ein Gesicht (in würdevollen und angemessenen Schwarz-Weiß-Zeichnungen) und eine Geschichte. Mit dieser Sichtbarmachung der Menschen, die gequält und ermordet wurden, setzt das Buch auch dem Versuch der Entmenschlichung durch die Täter*innen, deutlich etwas entgegen.

Eindringlich und anschaulich

Thomas Billstein: Kein Vergessen. Todesopfer rechter Gewalt in Deutschland nach 1945. Mit Illustrationen von moteus. Unrast-Verlag, Münster 2020, 344 Seiten, 19,80 Euro

Thomas Billstein: Kein Vergessen. Todesopfer rechter Gewalt in Deutschland nach 1945. Mit Illustrationen von moteus. Unrast-Verlag, Münster 2020, 344 Seiten, 19,80 Euro

Die Beschreibung des Tathergangs gelingt dem Autor so eindringlich und anschaulich, dass ein Bild von dem, was die Menschen erleben und erleiden mussten, entsteht, was tiefe Betroffenheit schafft und teilweise schwer zu ertragen ist. Besonders die Kaltblütigkeit der Täter*innen, die ihre Opfer nicht mehr als Menschen wahrnehmen und ihnen das Lebensrecht absprechen, ist dabei erschreckend. Dies vor Augen, haben die oftmals auffallend milden Urteile noch einmal eine ganz eigene Brisanz. »Mehr als ein Drittel aller Angeklagten«, ist zu lesen, »wurden insgesamt mit relativ kurzen Haftstrafen von bis zu sechs Jahren verurteilt«. Mit Blick auf die Grausamkeit der Taten muss dies besonders für die Angehörigen kaum zu ertragen sein.

Abgerundet und vervollständigt wird das Buch durch einleitende Definitionen rechter Gewalt und der unterschiedlichen Tatmotive. Benannt und gut erklärt werden hier Rassismus, Sexismus und Homophobie, Misogynie, Antisemitismus, Antiziganismus, Islamfeindlichkeit/antimuslimischer Rassismus, Sozialdarwinismus, politische Gegnerschaft, Feindlichkeit gegen Menschen mit Behinderung oder auch, was es für andere Motive gibt. Weiterhin gibt es gut ausgearbeitete Statistiken, die wichtige Informationen enthalten, wie beispielsweise die Verteilung der Opferzahlen nach Jahren oder Bundesländern, welche Tatmotive die häufigsten waren, ob es eine Gruppen- oder Einzeltat war, das Geschlecht der Opfer, das Alter und Geschlecht der Täter*innen oder auch die Länge der erhaltenen (Haft-)Strafen.

Seit 1984 jährlich Todesopfer rechter Gewalt

In einer Zeit, in der Teile der Gesellschaft nach rechts driften, rechte Parteien in die Parlamente gewählt werden, rassistische Aussagen zunehmend aus der Mitte der Gesellschaft kommen, wahrscheinlich täglich Übergriffe auf Menschen mit vermutetem Migrationshintergrund stattfinden, eine zunehmende Bewaffnung Rechtsextremer stattfindet, es immer wieder neue »Einzelfälle« bei Polizei und Bundeswehr gibt, »Querdenker*innen« mit Nazis zu Tausenden auf der Straße demonstrieren, liest sich dieses Buch mit einer besonderen Brisanz. Es zeigt das schlimmste Ergebnis dieser rassistischen Hetze, es führt vor Augen, wohin dieser Weg führen kann und schon hunderte Male geführt hat. Seit 1984 ist kein Jahr mehr vergangen, in dem nicht mindestens ein Todesopfer rechter Gewalt zu beklagen ist. Auch die Hoffnung des Autors, »Auf dass nie wieder weitere Todesopfer rechter Gewalt hinzugefügt werden müssen«, wurde schon jetzt, so kurz nach Erscheinen des Buches, zunichte gemacht.

Kleinreden nicht akzeptieren

Dieses Buch ist sicher nichts für gemütliche Leseabende auf dem Sofa. Es ist für Menschen, die sich für das Thema rechte Gewalt interessieren, und ein wichtiges Buch, damit die Todesopfer nicht vergessen werden. Es ist ein wichtiger Beitrag zur Debatte um das Thema Rechtsextremismus und straft all die Lügen, die die Gefahr kleinreden wollen. Es ist Mahnung und zugleich Aufforderung, sich rechtem Terror entgegenzustellen.