»Ich hatte viele Mütter«

geschrieben von Regina Girod

8. März 2022

Ingelore Prochnow wurde im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück geboren

In Ravensbrück, dem größten Frauenkonzentrationslager auf deutschem Boden, waren 120.000 Frauen und Kinder aus mehr als 30 Ländern inhaftiert. Viele der Frauen hatten zu Hause Kinder, über deren Schicksal sie im Ungewissen waren. Etwa 900 Kinder, deren Mütter als Schwangere verschleppt worden waren, wurden im KZ geboren – weniger als drei Prozent von ihnen überlebten. Die meisten Kinder, die überlebten, waren erst Anfang 1945 geboren worden – die Befreiung rettete ihr Leben.

Zu diesen Kinderhäftlingen gehörte auch Ingelore Prochnow, geboren am 5. April 1944 als Ingelore Rhode im KZ Ravensbrück. Zusammen mit ihrer Mutter wurde sie am 2. Mai 1945 von der Roten Armee in Malchow befreit. Länger als ein Jahr hatte sie als Baby und Kleinkind unter den unmenschlichen Lagerbedingungen über­lebt.

Ingelore Prochnow, 2021. Screenshots: »Geboren in Ravensbrück«

Ingelore Prochnow, 2021. Screenshots:
»Geboren in Ravensbrück«

Vor zehn Jahren veröffentlichte die Lagergemeinschaft Ravensbrück/Freundeskreis e. V. das Buch »Kinder von KZ-Häftlingen – eine vergessene Generation« mit Texten von Kindern ehemaliger Ravensbrückerinnen, von denen die meisten nach 1945 geboren worden waren. In diesem Buch hat Ingelore Prochnow bereits eindrücklich die Suche nach ihren Wurzeln beschrieben. Jetzt ist auch ein Dokumentarfilm darüber entstanden: »Geboren in Ravensbrück«, von Jule von Hertell und Julia Küllmer.

Das Besondere an der Geschichte Ingelore Prochnows besteht darin, dass sie selbst die Umstände ihrer frühen Kindheit erst im mittleren Lebensalter entdeckte und Stück für Stück rekonstruieren musste. Am Anfang stand die erschütternde Erkenntnis: »Da war ein KZ, in dem Kinder zur Welt kamen – und ich sollte eines davon sein.« Dass sie in einer Pflegefamilie aufgewachsen war, die sie als 16-jährige auch adoptierte, hatte sie gewusst, doch sie fühlte sich lange an das Versprechen gebunden, nie nach ihrer leiblichen Mutter zu suchen. Erst nach dem Tod der Pflegeeltern, Mitte der 80er-Jahre, nahm sie Einsicht in ihre Adoptionsakte, und da stand als Geburtsort: Ravensbrück. Dazu der Name und das Geburtsdatum ihrer Mutter. Die war 19 Jahre alt, als sie die Tochter gebar, eingeliefert als Schwangere mit dem Haftgrund »Verkehr mit einem Polen«.

Jule von Hertell (Regie): »Geboren in Ravensbrück«, Doku, BRD, 2021, 45 Minuten. DVD in Planung, vereinzelt finden Vorführungen statt. Online sehen (ab 2 Euro): docupasion.de/projekte/geboren-in-ravensbrueck

Jule von Hertell (Regie): »Geboren in Ravensbrück«, Doku, BRD, 2021, 45 Minuten. DVD in Planung, vereinzelt finden Vorführungen statt. Online sehen (ab 2 Euro): docupasion.de/projekte/geboren-in-ravensbrueck

Mehr als 25 Jahre suchte Ingelore Prochnow nach Dokumenten und Erinnerungen, fuhr in Archive und lernte Schicksalsgefährtinnen kennen. Die Lagergemeinschaft Ravensbrück, der sie heute tief verbunden ist, ermöglichte ihr 1986 durch eine Anzeige in den Ravensbrückblättern, ihre leibliche Mutter zu finden. Eine bittere Erfahrung für die Tochter, die ja wusste, dass die Mutter sie als Dreijährige in einem Flüchtlingslager zurückgelassen hatte. Eine Beziehung kam zwischen den beiden Frauen nicht mehr zustande.

2011, lange nach dem Tod der Mutter, erfuhr Ingelore Prochnow, dass diese im Archiv von Arolsen die Akte hatte sperren lassen, aus der hervorging, wer ihr Vater war: der polnische »Fremdarbeiter« Jan Gabonski, der ihre Mutter auf einem Bauernhof in Welsleben getroffen hatte. Im Sommer 1943 wurden beide verhaftet, er überlebte die Konzentrationslager Sachsenhausen, Dachau und Bergen Belsen und starb 1996 in Polen. Seine Tochter hat er nicht mehr kennengelernt.

Eine traurige, bedrückende, Geschichte. Wie viele Menschen haben Ähnliches erlebt und nie darüber berichten können?

Ingelore Prochnow hat die Verantwortung angenommen, die für sie daraus erwuchs. In dicken Tagebüchern dokumentierte sie ihre Recherchen. Die Gedenkstätte Ravensbrück, die sie nach dem Fall der Mauer das erste Mal besucht hat, ist zu einem Ort ihres Lebens geworden. Dort gibt es heute eine Gedenktafel für die Kinderhäftlinge, für die sie sich eingesetzt hat. Mit Evgenia Boiko, ebenfalls in Ravensbrück geboren, sogar noch ein paar Wochen älter als sie selbst, fühlt sie sich schwesterlich verbunden.

Es war ein Wunder, dass Ingelore Prochnow die Kinderstube im Block 5 überlebte, wo die Neugeborenen zu zehnt auf großen Strohsäcken lagen, hungrig, krank und schwach. Wenn sie starben, wurden sie in Körbe gepackt. Doch an dem Wunder ihres Überlebens waren viele Frauen beteiligt – ihre Häftlingsmütter. Für die Menschlichkeit und Kraft der Häftlingsfrauen von Ravensbrück, von denen heute nur noch wenige leben, legt Ingelore Prochnow mit ihrem Leben Zeugnis ab. Im April jährt sich die Befreiung des Lagers zum 77. Mal.

Lagergemeinschaft Ravensbrück/Freundeskreis e. V.: lg-ravensbrueck.vvn-bda.de