(Ge)wichtige Kontrastfolie
6. Mai 2025
Buch zu Thomas Manns demokratiepolitischen und antifaschistischen Aktivitäten
Ging Thomas Mann einen Weg vom kaisertreuen Nationalisten zum engagierten Demokraten? Ein neues Buch des Historikers Kai Sina von der Universität Münster geht dieser spannenden Frage nach. Der Autor beschreibt die demokratiepolitischen und antifaschistischen Gedanken, Schriften und Aktivitäten von Thomas Mann in einer bravourösen Lesart.
Kai Sina kennzeichnet Thomas Mann als demokratiepolitischen Aktivisten mit Hilfe von vier Kriterien: »… erstens, dass es einen konkreten Anlass für das politische Einschreiten gibt (im beispielhaften Fall die Reichstagswahl vom September 1930 mit dem alarmierenden Stimmenzuwachs der NSDAP); dass Thomas Mann zweitens auf einen für ihn ansonsten ungewöhnlich handfesten Ton, teils auf Polemik zurückgreift (etwa wenn er den Nationalsozialisten einen politischen ›Groteskstil mit Heilsarmee-Allüren, Massenkrampf, Budengeläut‹ bescheinigt); drittens auf der Grundlage einer klaren moralischen Unterscheidung argumentiert (eine Verletzung des ›Menschenanstands‹ erkennt er im politischen Rechtsruck) und dass er viertens zielgerichtet vorgeht, also wirksamen Einfluss auf den Prozess der öffentlichen Meinungsbildung nehmen will (was ja bereits durch die Gattungsbezeichnung seiner Reden als ›Appell‹ deutlich gemacht wird).« (S. 18)
Thomas Mann war in der Öffentlichkeit noch bis Anfang 1936 relativ zurückhaltend gegenüber dem NS-Staat; nach dem Entzug seiner Ehrendoktorwürde »durch die Philosophische Fakultät der Universität Bonn, begab er sich in die Rolle des kämpferischen Regimegegners, die er bis zum Untergang des Dritten Reichs inne behalten sollte« (S. 133).

Kai Sina: Was gut ist und was böse. Thomas Mann als politischer Aktivist. Propyläen, München 2024, 304 Seiten, 24 Euro
Sina nennt sein Buch über Mann »Essay«; er nimmt Bezug auf zentrale »Appell«-Reden von Mann (z. B. im gegen die NS-Bewegung gerichteten »Appell an die Vernunft« von 1930), die noch in Deutschland entstanden sind. Er beschreibt die späteren Aktivitäten Manns im Schweizer und dann im US-Exil mit den zahlreichen »Agitationsreden«, mit sowohl insgesamt 58 deutschsprachigen BBC-Rundfunksendungen als »Anstiftung zum Widerstand« (S. 181, S. 188) als auch demokratiepolitische Ansprachen Manns über »Krieg und Frieden, Freiheit und Demokratie« (S. 181) im Rahmen mehrerer Vortrags- und Diskussionstouren durch verschiedene US-Bundesstaaten (S. 165): »Das Publikum umfasste in der Regel 2.000 bis 6.000 Besucherinnen und Besucher. Allein auf seiner ersten Tournee erreichte er ungefähr 43.000 Menschen. Erheblich verbreitet wurde diese Öffentlichkeit durch eine extensive Presseberichterstattung« (S. 173).
Manns Verhältnis zum Judentum war nicht ohne Widersprüche und jahrzehntelang ausgesprochen ambivalent. Mann wollte Jüdinnen und Juden als soziokulturelle Weltbürger bewahrt wissen – nicht als Staatsbürger in einem eigenen Staat. Er idealisierte Jüdinnen und Juden »als europäischen Kultur-Stimulus« (S. 233). Ausgesprochen problematisch war sein Festhalten an einer jüdischen Anders- und Besonderheit« (S. 233). Dies könnte ihm heute auch als Rassismus angelastet werden.1 Erst 1944 – angesichts seiner Kenntnis über die Millionen ermordeten Juden und Jüdinnen im NS-Staat – gelangte er zu einer bedeutenden Zäsur in Richtung politischen Zionismus: »Der rechte, der natürliche Ort … wird Palästina sein« (S. 216).
Vielleicht wurde Kai Sina in seiner Begeisterung für den politischen Aktivisten Mann etwas abgelenkt von dessen Kriegsschriften im Ersten Weltkrieg bzw. davon, dass sich Mann endgültig erst Mitte der 1930er-Jahre von der Terrorherrschaft der Nazis abwendete. Ganz gewiss ist aber das Essay vom politisch handelnden Schriftsteller Mann eine (ge-)wichtige historisch-politische Kontrastfolie. Als krasser Gegenpol sei hier – um in der Zunft der bedeutenden Kunstschaffenden innerhalb der NS-Diktatur zu bleiben – Gustav Gründgens genannt. Dieser war Hermann Görings Protegé und wurde ab 1955 Generalintendant des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg. 1952 zog es Mann zurück in die neutrale Schweiz. Er war, wie Sina schreibt, enttäuscht »angesichts der Persistenz völkischer Denkmuster unter deutschen Intellektuellen« (S. 223).
1 Wenn Menschen aufgrund eines oft einzigen gemeinsamen Merkmals in Gruppen eingeteilt und diese abgewertet und ausgegrenzt werden, spricht man in den Sozialwissenschaften von »Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit«.