Der richtige Augenblick

geschrieben von Axel Holz

5. November 2023

Neuauflage von Raul Hilbergs Buch »Die Vernichtung der europäischen Juden«

Raul Hilberg entstammt einer jüdischen Wiener Familie, die vor den Nazis in die USA emigrieren musste. Als US-Soldat war er an der Befreiung des KZ Dachau beteiligt. Seitdem hatte den 2007 verstorbenen Historiker das Thema der Judenvernichtung durch die Nazis nicht mehr losgelassen. Er entdeckte in München die Kisten mit der Privatbibliothek Hitlers und befragte deutsche Soldaten im Auftrag der Alliierten. Im Politikstudium recherchierte er weiter an den Originalquellen zum Holocaust, der damals noch nicht so hieß und für den sich kaum jemand interessierte. Dies beförderte auch, dass die Überlebenden häufig über das Geschehene schwiegen.

»Die Vernichtung der europäischen Juden« ist heute nicht nur ein Standardwerk, sondern die »Gesamtgeschichte des Holocaust«, wie es in der ersten 1982 erschienenen deutschen Ausgabe hieß. Das Buch, an dem Raul Hilberg ein halbes Leben gearbeitet hat, ist geblieben und in seiner nun erschienenen Neuauflage auf 1.472 Seiten gewachsen. Hilberg analysiert und ordnet mit Präzision ein, emotionslos und ohne moralische Bewertung. Er beschreibt den Massenmord an den europäischen Juden im Detail, das Vorgehen gegen die Juden durch die Nazis in den verschiedenen europäischen Ländern, aber auch den Widerstand von Helfern, Juden und anderen NS-Gegnern. Es wird deutlich, wie perfide die Vernichtung der europäischen Juden organisiert wurde. Insbesondere in der Ukraine wurden diese durch eine Vereinbarung zwischen Wehrmacht und SS überrascht, die es ermöglichte, dass die der SS untergeordneten deutschen Polizeibataillone unmittelbar nach der Einnahme der Städte und Dörfer durch die Wehrmacht zu Tausenden vor Ort Juden ermordeten. Manche Orte wurden bis zu 15-mal durchsucht, um versteckte oder aus den Wäldern zurückgekehrte Juden aufzugreifen und zu ermorden. Raul Hilberg berichtet vom Antisemitismus in weiten Teilen der Bevölkerungen von Europa, aber auch von der Hilfe durch Einheimische in Dänemark, Holland und Belgien bis nach Białystok in Polen.

Raul Hilberg: Die Vernichtung der europäischen Juden. Mit einem Vorwort von René Schlott. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2023, 1.472 Seiten, 98 Euro

Raul Hilberg: Die Vernichtung der europäischen Juden. Mit einem Vorwort von René Schlott. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2023, 1.472 Seiten, 98 Euro

Der Massenmord an den Juden sei weder zentral geplant noch mittels eines eigenen Budgets finanziert worden, erläutert Hilberg-Biograf René Schlott. Dennoch sei die Vernichtungsmaschine nicht das Verbrechen weniger Täter, sondern das Werk der ganzen deutschen Gesellschaft. Hilberg weist auf die Verwicklung der Führungseliten in Staat, Industrie und Wehrmacht hin. Er legt aber auch die Hingabe durchschnittlicher Bürokraten, Reichsbahner und Soldaten beim Vernichtungswerk offen. Viele teilten den Antisemitismus der Nazis, denunzierten Juden oder deren Helfer. Viele überhörten die Berichte über Morde und Massaker aus den KZs und von der Front. Die meisten wollten nach dem Krieg nichts davon gewusst haben. Hilberg beschreibt das System der Vernichtung detailliert von der Definition der als Juden Diskriminierten über deren Erfassung, Konzentration durch Vertreibung, Ghettoisierung und Zwangsarbeit bis zum Massenmord in Vernichtungs- und Konzentrationslagern, in Gräben durch Genickschüsse, durch medizinische Experimente und Verhungern.

Für seine umfangreiche Promotion über den Judenmord fand Hilberg 1961 einen kaum bekannten Verlag in Chicago. Auch in der Bundesrepublik interessierten sich nun Verlage für das Buch. Doch ein Gutachter des Münchner Instituts für Zeitgeschichte empfahl 1964, das Buch nicht in der BRD zu veröffentlichen. Das Buch sei nicht umfassend genug, und es gebe anstehende Veröffentlichungen des eigenen Hauses. Zahlreiche Wissenschaftler glaubten, dass Deutsche einen nüchternen Blick auf das Thema hätten und Juden zu emotional urteilten. Als 1980 der Beck-Verlag erneut beim Institut für Zeitgeschichte wegen einer Veröffentlichung anfragte, hielt das Institut das Buch für veraltet. Es erschien erst 1982 im Kleinverlag Olle & Wolter, 1990 dann in großer Auflage bei Fischer. Das Buch ist so wenig veraltet, wie der Antisemitismus verschwunden ist. Es erscheint neu im richtigen Augenblick.