Lesebuch über Widerstand

geschrieben von Peter Nowak

12. März 2025

Auf 1.400 Seiten Maßstäbe gesetzt – »Martha und Harry Naujoks. Zwei Leben für die Befreiung«

»Dieser kleine gedrungene unauffällige Mann mit dem ausdrucksvollen Kinn und den hinter einer Brille mit dünnen Metallrahmen versteckten flinken Augen, der mit seinem seltsam wiegenden Gang eher einem Seemann ähnelte, war einer der standhaftesten und klügsten Menschen, die ich in meinen Leben kennenlernte« – mit dieser Eloge beschrieb der spätere Professor Jiří Hájek 1984 den in Harburg geborenen Kesselschmied Harry Naujoks.

Die beiden lernten sich im NS-Konzentrationslager Sachsenhausen kennen. Dort hatte der langjährige Kommunist Naujoks die Funktion des Lagerältesten inne, während Hájek zu den tschechischen Studierenden gehörte, die im Jahr 1939 verhaftet wurden. Dass die überwiegend politisch unerfahreneren jungen Leute dort überleben konnten, hatten sie Männern wie Harry Naujoks zu verdanken, der seine Funktion als Lagerältester nutzte, um auch an diesem Ort internationale Solidarität zu praktizieren. Hájek ist nicht der Einzige, der sich noch Jahrzehnte später mit Dankbarkeit an Naujoks erinnerte.

Naujoks war Vorsitzender des Sachsenhausenkomitees der BRD, im Internationalen Sachsenhausenkomitee und der VVN – später VVN-BdA – aktiv. 1987 veröffentliche Naujoks seine Erinnerungen als Lagerältester unter dem Titel »Mein Leben in Sachsenhausen« im Röderberg-Verlag und zwei Jahre später im Dietz-Verlag in der DDR. Beide Bücher hatten Einfluss auf die Forschung über die Geschichte des KZ-Systems der Nazis. In vielen Forschungen wurden Naujoks Schriften als Quelle genutzt, und es wurde betont, dass er ein besonders glaubwürdiger Chronist des NS-Terrorsystems ist. Jetzt können nicht nur Naujoks längst vergriffene Schriften wieder gelesen werden.

Peter Badekow, Andre Rebstock, Rüdiger von Hanxleden, Henning Fischer und Rainer Naujoks: Martha und Harry Naujoks. Zwei Leben für die Befreiung. Aufbrüche und Niederlagen. Zwischen Revolution und Inferno. Ein Doppelband (Lesebuch 1: Das vergessene Leben der Martha Naujoks; Lesebuch 2: Mein Leben im KZ Sachsenhausen). Kinder des Widerstands Hamburg/Galerie der abseitigen Künste (Hg.), erscheint am 28. März 2025, 1.400 Seiten, 59 Euro. Siehe auch kinder-des-widerstands.de/harry-naujoks-und-martha-naujoks

Peter Badekow, Andre Rebstock, Rüdiger von Hanxleden, Henning Fischer und Rainer Naujoks: Martha und Harry Naujoks. Zwei Leben für die Befreiung. Aufbrüche und Niederlagen. Zwischen Revolution und Inferno. Ein Doppelband (Lesebuch 1: Das vergessene Leben der Martha Naujoks; Lesebuch 2: Mein Leben im KZ Sachsenhausen). Kinder des Widerstands Hamburg/Galerie der abseitigen Künste (Hg.), erscheint am 28. März 2025, 1.400 Seiten, 59 Euro. Siehe auch kinder-des-widerstands.de/harry-naujoks-und-martha-naujoks

Zu verdanken ist die Herausgabe der Gruppe »Kinder des Widerstands«, in der sich Nachkommen von NS-Widerstandskämpfer*innen zusammengeschlossen haben, darunter der Sohn von Harry Naujoks. Sie nahmen Kontakt mit Henning Fischer auf, der mit dem Buch »Frauen im Widerstand. Deutsche politische Häftlinge im Frauen-KZ Ravensbrück. Geschichte und Nachgeschichte« ein wichtiges historisches Zeugnis zu den Antifaschistinnen veröffentlichte, ohne in eine Heldinnengeschichte zu verfallen. Mit dieser Perspektive ist Fischer auch an die Arbeit zu den Naujoks herangegangen.

In den beiden Bänden »Martha und Harry Naujoks: Zwei Leben für die Befreiung« können wir auf mehr als 1.400 Seiten über die Lebensgeschichte der beiden lesen. Martha war wie ihr Mann seit ihrer Jugend Kommunistin, konnte anders als er in die Sowjet-union migrieren, wo sie Funktionen in der kommunistischen Bewegung übernahm.

Doch auch dort blieb sie nicht vor Verfolgung geschützt. Wie viele überzeugte Kommunist*innen geriet sie in die Maschinerie der stalinistischen Verfolgungen. Sie gehörte zu den wenigen, die sich erfolgreich gegen ihren Ausschluss aus der kommunistischen Partei wehrten. Über viele Jahre war sie davon ausgegangen, dass ihr Mann im Konzentrationslager ermordet wurde. Bis sie kurz nach dem Ende der Nazizeit erfuhr, dass Harry lebte. Der machte sich geschwächt von der KZ-Haft, die er zunächst in Sachsenhausen dann in Flossenbürg erleben musste, auf den langen Weg zurück nach Hamburg und stürzte sich in die Parteiarbeit.

Doch er wurde in der Partei kaltgestellt, weil er in der Weimarer Zeit ebenso wie Martha der Strömung der sogenannten Versöhnler angehört hatte, also nicht immer auf Parteilinie lag. Martha und Harry blieben Parteimitglieder, zogen sich aber aus der Parteiarbeit zurück. Das war im Nachhinein ein Glücksfall, weil Harry Naujoks so Zeit fand, sich neben seiner Berufstätigkeit und seiner geliebten Gartenarbeit der Geschichte des antifaschistischen Widerstands zu widmen, dabei immer begleitet von Martha, die aber meist im Hintergrund blieb.

In den beiden Bänden wird nun kritisch rekonstruiert, mit welch großem Aufwand sich die Naujoks dieser Geschichtspolitik widmeten. Dazu gehörten die sogenannten Kumpelgespräche, bei denen sich über mehrere Jahre hinweg ehemalige Sachsenhausen-Häftlinge wöchentlich trafen, um ihre Erlebnissen im KZ aufzuzeichnen und gemeinsam zu diskutieren. So wurden Naujoks’ Erinnerungen zu einem so glaubwürdigen Zeugnis auch für die Forschung.

Beeindruckend ist auch, dass er differenziert über die einzelnen Häftlingsgruppen berichtete. Dazu gehören die als kriminell oder als asozial verfolgten Häftlinge. Er lieferte wichtige Impulse für eine Forschung, die nicht die unterschiedlichen Häftlingsgruppen gegeneinander ausspielt. Für ihn war maßgeblich, wie sich die einzelnen Häftlinge im KZ-Alltag verhielten. In den nun vorliegenden Bänden wird die Entstehung dieser Erinnerungen kritisch rekonstruiert. 47 Beiträge zum Thema Faschismus von unterschiedlichen linken Autor*innen machen das Kompendium zu einem Lesebuch über Widerstand und Verfolgung. Die beiden Bände setzen Maßstäbe, wie in einer Zeit, in der die Zeitzeug*innen nicht mehr leben, mit der Geschichte des antifaschistischen Widerstands umgegangen werden könnte.

Eine traurige Nachricht

(…) Am 19. Februar erfuhren wir, dass unser Freund, Redaktionsmitglied, Co-Autor und kluger Impulsgeber Rainer Naujoks am Abend des 18. Februar verstorben ist. Rainer Naujoks wurde 78 Jahre alt, er starb nach langer schwerer Krankheit. Mehrere von uns »Kindern des Widerstands« kannten und schätzten Rainer seit mehr als 60 Jahren (…)

Wir sind uns sicher, dass Rainer die beiden Bände »Zwei Leben für die Befreiung« auch als das Vermächtnis eines Nachkommens von Kämpfer:innen gegen Willkürherrschaft, Terror, Massenmorde verstanden hat: sein Vermächtnis. (…)

Andre Rebstock, Hamburg, den 20. Februar 2025 für die »Naujoks-Runde« der Kinder des Widerstands