Ausgabe September/Oktober 2023

geschrieben von Nils Becker

14. September 2023

Demonstration am 12. August in Dortmund: Gedenken an den 16jährigen Mouhamed Lamine Dramé, der vor einem Jahr bei einem Polizeieinsatz erschossen wurde. Bericht auf den NRW-Seiten im Länderteil dieser Ausgabe. Foto: Uwe Bitzel/umbruch-bildarchiv.org

Laut einer Befragung des Meinungsforschungsinstituts Emnid könnten sich 18 Prozent der Deutschen vorstellen, eine von Thilo Sarrazin geführte Partei zu wählen. Diese Umfrage war im Winter 2010/11 und reflektierte das gesellschaftliche Echo auf das rassistische Buch »Deutschland schafft sich ab« des prominenten SPDlers Sarrazin. Der vermeintliche Ruf nach einer rechtspopulistischen Partei war laut genug, dass sich Teile des rechten Bundes Freier Bürger, sowie liberal-konservative Eurokritiker*innen mit CDU/FDP-Parteikarrieren Erfolgschancen ausrechneten, um die Regierung Merkel mit einem Bündnisprojekt von rechts unter Druck zu setzen. Sarrazin und die Gründungsmitglieder der AfD, die mit ihrer »Wahlalternative 2013« erstmalig antraten, sind vergessen, wie die Wirtschaftskrise von 2010 – die der eigentliche AfD-Gründungsmythos ist. Geblieben ist diese Partei, mit einer nunmehr extrem rechten Führung, und das Wähler*innenpotential, das nun auch realisierbar ist.

Wer sich über die Ursachen der Radikalisierung der Partei und die Auswirkungen auf uns alle Gedanken macht, sollte die absichtsvollen Bemühungen des sogenannten demokratischen Spektrums und die Rolle der zum Erfolg der AfD maßgeblichen Medien berücksichtigen. Mit Blick auf die deutsche Geschichte und die jüngeren Entwicklungen in vielen anderen Ländern, waren schon 2012 die Dynamiken vorhersehbar, die durch die Mobilisierung von Angst, Wut und Nationalismus entstehen. Trotzdem wurde und wird weiter verantwortungslos mit dem Feuer gespielt.

Nach zehn Jahren AfD hat sich einiges verändert, und wir müssen konstatieren, dass auch wir als Antifaschist*innen womöglich in die nächste Phase der Auseinandersetzung eintreten müssen: Was ist zu tun, wenn der Faschismus, ob nun als durchsetzungsfähige Minderheit oder im Bündnis mit Opportunist*innen aller Couleur, entscheidend das Miteinander hierzulande, die EU und die Außenpolitik prägt? Es macht sehr wohl einen Unterschied, ob die AfD in den Parlamenten, Rathäusern und Sicherheitsapparaten sitzt. Das  wissen wir, nicht erst seit ein rechtes Parteienbündnis in Italien die Regierung übernommen hat. Da es darauf keine einfachen Antworten gibt, sollte der Dialog dazu, was von wem zu tun ist, bald starten, bevor es wieder zu spät ist. Weitere zehn Jahre können wir uns nicht leisten.

Inhalt der Ausgabe

Zeitgeschehen
Brandmauern, Zündler, Feuerwehr (Kerstin Köditz)
Niger: Der »richtige« Ort (Ina Sembdner)
Besondere Kombination: Fachkräfte und Asylrecht (Nils Becker)
Henstedt-Ulzburg: Der Täter war bereit zu töten (Sonja Petersen)
Zum Sommerinterview von Höcke: Inklusion ist keine Ideologie (Sigrid Falkenstein, Julia Gilfert, Gabriele Lübke)
Sächsische Schweiz: Antifa-Wanderseminar (Maxi Schneider)
Zum AfD-Parteitag: Sie wittern die Macht (Thomas Willms)
Militärische Planspiele in der Ukraine (IPPNW)
Meldungen
Interview: Kein CSD ohne Antifa (Kathrin Vogler)
»Rechtsrockland« Thüringen (Martina Renner)
Hubert Aiwanger unter Druck (Janka Kluge)
Archive der VVN: Neueröffnung des Hartmut-Meyer-Archivs in Köln
Leserbriefe: »Querfront« in der Weimarer Republik? zu Spezial Juli/August.
Leserbrief: Die Staatsnähe der französischen Medien zu „Demokratische Militarisierung“ (Juli/August)

Spezial
Rechte Medienprojekte und digitale Mobilisierungen (Maik Fielitz)
Neues rechtes Hetzmedium: Nius (Andreas Siegmund-Schultze)

Portrait: Marianne Wilke (Matthias Behring)

Geschichte
Die internationalistische Chile-Solidaritätsbewegung vor 50 Jahren (Ulrich Schneider)
Bildungsreise zum jüdischen Exodus 1947 in Österreich (Peps Gutsche)

Internationales
Türkische Kriegsverbrechen gegen Kurd:innen und Êzîd:innen mit EU-Hilfe (Civaka Azad)
Die FIR auf dem Weg zum XIX. Kongress in Barcelona (Ulrich Schneider)
Partisanen-Wanderung Region Emilia-Romagna (Johanna Jawinsky)

Kultur
Volkstheater. Der rechte Angriff auf die Kunstfreiheit (Janka Kluge)
Interview zur Podcastreihe: „Qabale“ (Juliet Schnabel)
Fritz-Bauer-Forum in Bochum (Ulrich Sander)
Verfassungsschutz. Wie der Geheimdienst Politik macht (Sebastian Schröder)
Lesebuch zu Harry und Martha Naujoks (Henning Fischer)
Föhrenwald, das vergessene Schtetl (Harry Friebel)
Faschismus, Antifaschismus und Epoche sozialer Revolution (Regina Girod)
Phantastische Gesellschaft. Falsche und imaginierte Familiengeschichten zur NS-Verfolgung (Nils Weigt)
Kroatische Exilgruppen in der Bundesrepublik (Peter Nowak)

Rücktitel: Ula Richter

Brandmauern, Zündler, Feuerwehr

geschrieben von Kerstin Köditz

14. September 2023

Wie es der AfD gelingt, den Diskurs zu bestimmen

Eine Brandmauer ist eine Wand, die durch ihre besondere Beschaffenheit dafür sorgen soll, dass ein Feuer nicht von einem Gebäude oder Gebäudeteil auf ein anders übergreifen kann. Sie muss diese Aufgabe auch dann erfüllen, wenn Löschwasser und Hitze auf sie einwirken oder Bauteile auf sie stürzen. Natürlich darf eine Brandmauer nicht durch brennbare Baustoffe unterbrochen werden oder Hohlräume aufweisen. Kurz: Eine Brandmauer ist eine Defensivmaßnahme, die im Ernstfall Schlimmeres verhindern soll. Der Ernstfall, das ist der Brand. Sie wirkt nicht dort, wo es bereits brennt.

Die Brandmauer, von der gerade – angestoßen vom CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz – im politischen Leben alle reden, ist die »Brandmauer gegen rechts«; konkret: gegen die AfD. Jene Partei, die Merz mit seiner CDU halbieren wollte. Jene AfD, deren Vorsitzender Tino Chrupalla inzwischen davon spricht, dass die von ihm geführte AfD die CDU halbieren wolle. Damit ist er noch zurückhaltend. Maximilian Krah, Spitzenkandidat der AfD zur Europawahl gibt als Ziel gar die Parole aus, die CDU müsse vernichtet werden. »Die CDU bleibt also der strategische Hauptgegner«, so Krah. Es brennt also tatsächlich. Lichterloh. Brandmauern, Zündler, Feuerwehr weiterlesen »

Der »richtige« Ort

geschrieben von Ina Sembdner

14. September 2023

Bundeswehr in Niger: Fluchtabwehr unter Deckmantel der »Terrorbekämpfung«

Zu den Ländern auf den letzten zehn Plätzen des Human Development Index, der die »menschliche Entwicklung« in den jeweiligen Ländern »misst«, gehören nicht zufällig all jene Staaten Westafrikas, die sich nach Putschen in einem militärisch geführten Übergang finden: Guinea (182), Burkina Faso (184), Mali (186) und zuletzt Niger, das an Stelle 189 von 191 offiziell registrierten Staaten steht. Der »richtige« Ort weiterlesen »

Besondere Kombination

geschrieben von Nils Becker

14. September 2023

Die Bundesregierung will rassistische Stimmungen und Nützlichkeitsdenken verbinden

Im August präsentierte die Bundesregierung zwei Vorschläge zur Begrenzung und Regulierung der Zuwanderung. Einerseits wurde auf die gestiegenen Zahlen von Asylanträgen mit Vorschlägen zur Beschleunigung von Abschiebungen reagiert, andererseits eine Reform des Staatsbürgerschaftsrechts eingebracht, das vor allem diejenigen befriedigt, die Deutschland im globalen Wettbewerb um die besten Köpfe gefährdet sehen. Beides wird das Leben für zahlreiche Geflüchtete schwerer machen. Besondere Kombination weiterlesen »

Täter war bereit zu töten

14. September 2023

Solidarität mit Opfern rechter Gewalt. Gespräch mit Sonja Petersen

antifa: Stellt euer Bündnis bitte kurz vor. Welche Aktionen habt ihr bisher durchgeführt?

Sonja Petersen: Das Bündnis besteht seit knapp einem Jahr, in ihm sind antifaschistische Gruppen aus Schleswig-Holstein und Hamburg vernetzt. Neben einer Demonstration im Juni dieses Jahres in Henstedt-Ulzburg haben wir mittlerweile europaweit Informationsveranstaltungen zur rechten Autoattacke vom 17. Oktober 2020 durchgeführt. Seit Prozessbeginn begleiten wir die Verhandlungen kontinuierlich als Beobachter*innen im Gerichtssaal und organisieren unregelmäßig immer wieder auch antifaschistische Kundgebungen davor.

antifa: Der Angriff wurde in Pressemeldungen als Verkehrsunfall verharmlost und die politische Motivation größtenteils außen vor gelassen. Wie habt ihr diese Entwicklung wahrgenommen, und hat sich daran seit Prozessbeginn etwas geändert? Täter war bereit zu töten weiterlesen »

Inklusion ist keine Ideologie

geschrieben von Sigrid Falkenstein, Julia Gilfert, Gabriele Lübke

14. September 2023

Angehörige von NS-»Euthanasie«-Opfern zum MDR-Sommerinterview mit Björn Höcke am 9. August

Vor 90 Jahren, am 14. Juli 1933, verabschiedeten die Nationalsozialisten das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses«. Es ordnete die zwangsweise Unfruchtbarmachung von Menschen an, die vermeintlich nicht in den »gesunden und leistungsstarken Volkskörper« passten. Dahinter verbarg sich ein mit Nützlichkeitsdenken gepaartes zutiefst rassistisches Menschenbild. Bis Kriegsende wurden mehrere hunderttausend Menschen zwangssterilisiert. Ein großer Teil von ihnen wurde im Zuge der NS-»Euthanasie« ermordet. Das alles begann schleichend und endete mit dem Massenmord an rund 300.000 behinderten und psychisch erkrankten Menschen. Inklusion ist keine Ideologie weiterlesen »

Auf den Spuren des Arbeiterbergsports

geschrieben von Maxi Schneider

14. September 2023

Rückblick auf antifaschistisches Seminar mit Wanderung in Sächsischer Schweiz

Die 16. Rote-Bergsteiger*innen-Wanderung erinnerte an den antifaschistischen Widerstand in Struppen bei Pirna. Über 50 Teilnehmende begaben sich Ende Juni unter Anleitung der Ehrenamtlichen vom AKuBiZ aus Pirna auf die Spuren von Verfolgung und Widerstand in der deutsch-tschechischen Grenzregion. Diesjähriger Schwerpunkt war die Rolle der Arbeiterbergsportvereine. Untergebracht waren die von nah und fern Angereisten in einem ehemaligen FDJ-Ferienlager. Als Einstieg ins Wochenende gab uns Steffen Richter vom AKuBiZ einen Überblick über die Geschichte und Aktivitäten linker Bergsportvereine. Sie bildeten eine lebendige Szene, aus der 1932 die erste und vielbeachtete Arbeiter-Kaukasus-Expedition realisiert wurde. Nach 1933 waren die Bergsportvereine Keimzelle für antifaschistische Widerstandstätigkeiten in der Sächsischen Schweiz. Auf den Spuren des Arbeiterbergsports weiterlesen »

Sie wittern die Macht

geschrieben von Thomas Willms

14. September 2023

Zum AfD-Parteitag im Juli und August in Magdeburg

Weniger Hinterzimmeratmosphäre geht nicht: Das Treffen der 600 Delegierten zum Magdeburger Bundesparteitag der AfD am letzten Juli- und ersten Augustwochenende wurde komplett (rund 50 Stunden) live übertragen auf Phoenix, dem Nachrichtenkanal des öffentlich-rechtlichen Fernsehens und bleibt via youtube auch so verewigt. Die Moderatorenstimme klärt derweil in gedämpfter Form – als wolle man die Delegierten nicht bei ihrer wichtigen Arbeit stören – darüber auf, worum es gerade geht. Wichtige Funktionäre wurden in den Pausen ausgiebig interviewt und konnten ungestraft sagen, was sie sagen wollten.

Das theoretische Wissen, dass es sich bei der AfD um eine Massenpartei handelt, bekommt eine bildhafte Entsprechung. Man nimmt wahr, dass diese Partei eher von Männern bestimmt wird, die älteren dominieren, die jüngeren wollen auf Teufel komm raus schneidig aussehen. Die Stimmung ist entspannt, großer Streit findet zumindest auf der Bühne nicht statt. Die Zeiten fieser interner Auseinandersetzungen mit eskalierenden Geschäftsordnungsdebatten und platzenden Tagesordnungen sind erst einmal vorbei. Man sieht sich auf der Siegerstraße und hat den Duft der Macht in die Nase bekommen. Das diszipliniert, denn bekanntlich mögen Wähler*innen keinen parteipolitischen Dauerstreit. Sie wittern die Macht weiterlesen »

Militärische Planspiele

14. September 2023

IPPNW empfiehlt Waffenstillstand im Ukraine-Krieg zur Vorbeugung einer Eskalation

Die ärztliche Friedensorganisation IPPNW warnt vor dem Hintergrund der Debatte um die Lieferung von Marschflugkörpern an die Ukraine vor einer Eskalation des Krieges bis hin zur Möglichkeit eines Atomkriegs oder einer »horizontalen« Eskalation, bei der sich der Krieg auf einzelne NATO-Länder oder die NATO insgesamt ausweiten könnte. Die Ärzt*innenorganisation unterstützt internationale Gespräche, in denen ein Waffenstillstand und darauf aufbauende Friedensverhandlungen vorbereitet werden.

Nur durch Prävention kann eine weitere Eskalation verhindert werden. Auch unabhängig vom Eskalationsrisiko muss aus humanitären Gründen ein Ende der Kriegshandlungen angestrebt werden, um das tägliche Sterben und die Traumatisierungen sowohl der Zivilbevölkerung wie auch der Soldat*innen zu beenden. Die mit dem Krieg zusammenhängenden, multiplen Krisen, wie die Hungersnot, ansteigende Lebensmittelpreise, Inflation und Klimakrise, gilt es abzumildern. Militärische Planspiele weiterlesen »

Meldungen

14. September 2023

Thomas Kuczynski tot

Der marxistische Wirtschaftshistoriker und Antifaschist Thomas Kuczynski ist tot. Er starb am 19. August in Berlin. Geboren wurde er am 12. November 1944 in London, im Exil seiner Eltern Jürgen und Marguerite. Nach dem Krieg siedelte die Familie in die spätere DDR über, Thomas Kuczynski studierte an der Ostberliner Hochschule für Ökonomie Statistik. Später veröffentlichte er als Publizist zahlreiche Schriften zur Politischen Ökonomie und fungierte als Herausgeber von neu veröffentlichten Marx-Bänden. Herausragend auch sein Engagement in der Auseinandersetzung zwischen der BRD und Opfern der Nazizwangsarbeit: Im Jahr 1999 veröffentlichte er die Studie »Entschädigungsansprüche für Zwangsarbeit im ›Dritten Reich‹ auf der Basis der damals erzielten zusätzlichen Einnahmen und Gewinne«, die ergab, dass die BRD den Opfern rund 180,5 Milliarden DM schuldig sei.

VS-Akte veröffentlicht

Ende Juni wurde eine 396 Seiten starke Akte des Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV) über Alois Brunner veröffentlicht. Brunner befehligte während des Zweiten Weltkrieges mordende SS-Sonderkommandos und war zeitweise als Stellvertreter Adolf Eichmanns Mitorganisator der Shoah. Bis 1954 lebte Brunner unter falschem Namen in der BRD. Er setzte sich ins Ausland ab und starb wohl Meldungen weiterlesen »

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