Briefmarken als Zeitzeugen

geschrieben von Ludwig Elm

5. September 2013

Aufschlussreiches aus der Frühgeschichte von DDR, BRD und Berlin
(West)

Mai-Juni 2009

Es lohnt, die Briefmarken vergangener Zeiten als Zeugen aufzurufen. Die postalischen Wertzeichen erinnern in vielen Ländern an Erbe und Tradition. Sie bekennen häufig auch Positionen zur Zeitgeschichte. Aussagen wie künstlerische Gestaltung sind authentisch und unwiderruflich. Die Marken wirken mit meist millionenfachen Auflagen in das Alltagsleben vieler Menschen. Bezüglich der Vor- und Frühgeschichte beider deutscher Staaten ist der damalige Umgang mit dem bis 1945 Geschehenen von hohem Interesse. Beiderseits waren Post und Fernmeldewesen ab 1949/50 Ministerien zugeordnet. Dort wurde entschieden, wann, wozu und in welcher Ausführung und Auflage Postwertzeichen – Serien wie Sondermarken – erscheinen sollen. Damit erhalten Leistungen wie Defizite auf diesem Gebiet staatlicher Öffentlichkeitsarbeit einen repräsentativen Rang und geben Aufschluss über je vorherrschende Wertauffassungen und Leitbilder.

In der Philatelie wird anschaulich sichtbar, dass 1990 nicht nur die DDR der Bundesrepublik beitrat, sondern erst jetzt Berlin (West) im streng völkerrechtlichen Sinn uneingeschränkter Bestandteil dieses Staates wurde. Berlin (West) hat von September 1948 bis zum 27. September 1990 eigene Postwertzeichen herausgegeben. Das ergab sich aus der 1949 von den Westalliierten gegen westdeutsche Bestrebungen getroffenen Entscheidung, dass Westberlin kein Bestandteil der Bundesrepublik ist und nicht von ihr regiert wird. Diesem Status widersprachen bundesrepublikanische Staatsakte in Westberlin, die für den Kalten Krieg charakteristisch waren. Sie wurden wiederholt durch Sondermarken aufgewertet, beispielsweise zur Wahl des Bundespräsidenten am 17. Juli 1954 in Berlin, zu Tagungen des Bundestages im Herbst 1955 und des Bundesrates im März 1956 sowie anlässlich der konstituierenden Sitzung des 3. Bundestages am 15. Oktober 1957. Fragwürdig waren somit auch Westberliner Ausgaben mit den Präsidenten der Bundesrepublik (Heuss, Lübke und letztmalig 1972 Heinemann).

Bereits am 17. August 1953 kamen zwei Briefmarken zum 17. Juni 1953 heraus. Den Rechtsstatus der Stadt fälschend, erschien im September 1964 in der bundesdeutschen Serie »Hauptstädte der Länder der Bundesrepublik« eine Berlin-Ausgabe mit dem Reichstagsgebäude. Im Januar 1971 wurde der 100. Jahrestag der Reichsgründung mit einer Marke – Reichsadler mit Kaiserkrone – gewürdigt. Wiederholt gedachte man auch philatelistisch der Luftbrücke von 1948/49.

Nach der Befreiung vom Faschismus herrschte ein widersprüchliches Bild postalischer Aktivitäten der Besatzungsmächte – gemeinsam und zunehmend je in ihren Zonen. In der ersten Phase kam es zu Provisorien und regionalen oder kommunalen Initiativen. In Mecklenburg-Vorpommern erschienen im Oktober 1945 drei Marken »Opfer des Faschismus«: Rudolf Breitscheid, Erich Klausener und Ernst Thälmann. In Thüringen wurde der Dreier-Block einer Freimarkenserie im Dezember als »Weihnachtsspende 1945 für die Opfer des Faschismus« im Wert von zwei Reichsmark herausgebracht. Eindrucksvoll ist eine lokale Blockausgabe der Stadt Storkow von Januar 1946: »Nie vergessen! KZ« steht über dem roten Winkel der politisch Verfolgten. Für die Sowjetische Besatzungszone gab es ab Oktober 1948 eine Serie mit acht Persönlichkeiten der deutschen Geschichte, darunter Käthe Kollwitz und Ernst Thälmann. Zum 15. Januar 1949 folgte eine Marke anlässlich des 30. Todestages von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg.

Die DDR wandte sich mit der Reihe »Präsident Wilhelm Pieck« im Mai 1950, vermittelt durch seinen Lebensweg, antifaschistischen Herkünften zu. An Ernst Thälmann wird am 18. August 1954 aus Anlass seines 10. Todestages erinnert. Mit dem 10. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus wurde langfristig ein stetes Gedenken an Opfer und Widerstand eingeleitet. Ausgaben im April 1955 zeigen die Ehrenmale in Treptow und auf dem Friedhof Brandenburg. Eine Blockausgabe der beiden Brandenburg-Marken eröffnet mit Zuschlägen die Initiative »Für den Aufbau Nationaler Gedenkstätten in Buchenwald, Ravensbrück, Sachsenhausen«. Es folgen die Ansichten Buchenwald (1956) und Ravensbrück (1957). Dem 100. Geburtstag von Clara Zetkin ist im Juli 1957 eine Ausgabe – Porträt und rote Nelke – gewidmet. An Thälmann, Breitscheid und Pfarrer Paul Schneider erinnern Einzelmarken. Diese werden im September 1958 als Blockausgabe »Einweihung der Nationalen Gedenkstätte Buchenwald« aufgelegt.

Mit den drei genannten Opfern des KZ Buchenwald begann die langjährig fortgesetzte Serie zum Gedenken an Männer und Frauen des Widerstandes, stellvertretend für unzählige, die ihren Einsatz mit dem Leben bezahlten. Die Zuschläge erinnern daran, dass die Nationalen Mahn- und Gedenkstätten in hohem Maße von den Bürgerinnen und Bürgern der DDR finanziert wurden. Anfang November 1963 wurde nach 25 Jahren der Reichspogromnacht mit einer Sondermarke gedacht: »Niemals wieder – Kristallnacht«. Die Abbildung zeigt den von einer Kette umwundenen Davidstern vor einer brennenden Synagoge.

In den Westzonen erschien zwischen 1945 und 1949 keine Briefmarke mit einem antifaschistischen Bekenntnis. Das ist für diese Periode eher überraschend. Die Tendenz der folgenden Jahre wird damit allerdings vorweggenommen. Immerhin findet sich Karl Marx in einer Serie, die am 5. Mai 1947 für das zur Französischen Zone gehörende Rheinland und die bayerische Pfalz herausgegeben wurde – ein denkwürdiges Zeichen des damaligen europaweiten Zeitgeistes.

Für viele Jahre sind Verfolgung, Opfer und Widerstand in Drittem Reich und Zweitem Weltkrieg kein Thema. Die zuständigen, der CSU oder CDU angehörenden, Bundesminister setzen die Politik der Mitte-Rechts-Koalitionen unter Kanzler Adenauer um. Keineswegs wurden zeitgeschichtliche Vorgänge und Gebote des Gedenkens überhaupt ignoriert. Ausgerechnet am 9. Mai 1953 kommt die Marke »Deutsche Kriegsgefangene« heraus. Die Inschrift »Gedenket unserer Gefangenen« umschließt einen stilisierten Kopf hinter Stacheldraht. Die Auflage von 101.200.000 übertrifft weit die der seit 1949 erschienenen Sondermarken. Zum Jahrestag des Potsdamer Abkommens wurde am 2. August 1955 der 20 Pfg.-Wert »Zehn Jahre Vertreibung 1945-1955« präsentiert. Er erschien mit gleicher Abbildung und anderer Färbung erneut im Juli 1965 unter »Zwanzig Jahre Vertreibung«. Im November 1956 wurden die »Kriegsgräberfürsorge« mit einer Auflage von 50.000.000 sowie im April 1960 das »Weltflüchtlingsjahr 1959/60« gewürdigt. Der namhafte Vertreter der nazistisch-rassistischen Bildhauerei, Arno Breker, tritt 1962 als Graphiker einer Marke hervor.

Das erste Postwertzeichen der Bundesrepublik, das dem Widerstand und den Opfern gewidmet wurde, erschien im Sommer 1964. Der Block »20. Jahrestag des Attentats auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944« umfasst acht Persönlichkeiten: Sophie Scholl, Ludwig Beck, Dietrich Bonhoeffer, Alfred Delp, Karl-Friedrich Goerdeler, Wilhelm Leuschner, Helmut J. Graf von Moltke und Claus Graf Schenk von Stauffenberg. In Westberlin war bereits zum 10. Jahrestag eine Gedenkmarke erschienen. Zu seinem 1. Todestag im November 1957 hatte die Bundespost an Leo Baeck erinnert. Der Rabbiner war als Vorsitzender der Reichsvertretung der Juden in Deutschland bis 1943 Verhandlungspartner der NS-Behörden und überlebte die anschließende Haft in Theresienstadt.

Auch in den folgenden Jahrzehnten blieb die Würdigung des antifaschistischen Vermächtnisses in der Bundesrepublik marginal und lückenhaft. Dem 8. Mai sowie dem kommunistischen Widerstand und seinen Opfern – viele Frauen inbegriffen – wurde in der bundesdeutschen Philatelie bis heute kein Gedenken zuteil. Die ostpreußische glühende NS-Dichterin Agnes Miegel war jedoch nicht vergessen und 1979 mehr als 30-millionenfach unters Volk gebracht worden.