Der Anfang vom Ende

5. September 2013

Die Deutschen und der 22. Juni 1941. Von Kurt Pätzold

Juli-Aug. 2009

Verhältnismäßig selten, hieß es schon in einem SD-Bericht vom 26. Juni, würde in Debatten an das Schicksal Napoleons erinnert, der in den russischen Weiten gescheitert sei, eine Geschichte, die den Deutschen aus ihren vaterländischen Schulbüchern gut bekannt war. Dort hatten sie Bilder von den jämmerlichen, in der Kälte des Ostens frierenden Gestalten der Armee des Franzosenkaisers gesehen und darunter die Worte gelesen: »Mit Mann und Ross und Wagen hat sie der Herr geschlagen«. Von solchen Bildern trennten die Soldaten der Wehrmacht im Mittelabschnitt nur etwa fünf Monate. In der dann aus russischen Bauernhäusern gestohlenen Winterbekleidung, sie selbst waren ohne entsprechende Ausrüstung in die osteuropäische Kälte kommandiert worden, wiesen sie mit den Soldaten Napoleons eine gewisse Ähnlichkeit auf.

Doch kann kaum bezweifelt werden, dass die antibolschewistischen Bilder, die seit 1918 in Deutschland von verschiedensten politischen Kräften verbreitet, 1939 aber aus dem Verkehr gezogen worden waren, durch die Nazipropaganda rasch entstaubt werden konnten. Dem Zweck der erneuten antibolschewistischen Aufpulverung dienten schon in den ersten Wochenschauen Bilder gefangen genommener Rotarmisten, die als solche von »Asiaten« und »Untermenschen« und mit der Absicht präsentiert wurden, den Gegner als minderwertig und brutal erscheinen zu lassen und auf diese Weise vor allem jedes Mittel des eigenen Vorgehens zu rechtfertigen.

Am Tage nach dem Einfall der Armeen der deutschen Wehrmacht in die Sowjetunion meldete die Zentrale des Sicherheitsdienstes, die Deutschen wären vom Beginn dieses Krieges überrascht gewesen. Ganz ohne Einschränkungen lässt sich die Nachricht nicht lesen. Selbst ein Mann, dessen Bewegungsfreiheit so eingeschränkt war wie die des in Dresden lebenden jüdischen Wissenschaftlers Victor Klemperer, notierte am 21. Mai 1941 nach einem Besuch in der benachbarten sächsischen Kleinstadt in sein Tagebuch: »In den letzten Wochen sind allein hier im Pirnaer Bezirk zehntausende Leute eingezogen worden. Alles geht nach Osten. Russland!«.

Eine Armee, die mehr als eine Million Männer zählte, vor die Grenzen der UdSSR nach Ostpreußen und in das deutsch-besetzte Polen zu transportieren und das auf weiten Wegen quer durch das Deutsche Reich, das ließ sich schwerlich »im Dunkel der Nacht« erledigen. Und die dort in immer größerer Zahl versammelt wurden, waren nicht ohne Verbindungen in die Heimat. Sie schrieben Feldpostbriefe und in vielen stand mindestens in einer Andeutung, wo sich der Absender inzwischen befand. Nun also: ein Einfall in den Staat, mit dem 22 Monate zuvor ein Nichtangriffsvertrag geschlossen worden war. Was bedeutete das für den Fortgang des Krieges insgesamt und was für dessen Dauer?

Zunächst einmal einen neuen unerwarteten »Kriegsschauplatz« und zwar von einer Dimension, die alle bisherigen gleichsam in den Schatten stellte. Indessen hatte Hitler, als er im faschistischen Reichstag die Bilanz des Balkanfeldzugs vortrug, erklärt, dass dem deutschen Soldaten nichts unmöglich sei. Darauf vertrauend nahmen viele die Nachricht an diesem Junitag hin. Nein, ein Schock wäre durch sie nicht ausgelöst worden, hieß es in den internen, nur für die engste Führungsgruppe angefertigten Stimmungsberichten, doch sei »überall« Bestürzung, Nervosität und Bedrücktheit festzustellen gewesen. So hatten sich die Deutschen den Weg zum »Endsieg« nicht vorgestellt. Diese unvorhergesehene Wendung musste ihnen zumindest als ein Umweg erscheinen. Jedenfalls waren ihre Hoffnungen auf die unmittelbar bevorstehende abschließende Auseinandersetzung mit Großbritannien dahin. Das war nach dem im August 1939 vollzogenen der zweite radikale Bruch der deutschen Außenpolitik gegenüber der UdSSR.

Der voraufgegangene in Gestalt des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes hatte vor allem dem in den Krieg ziehenden Deutschland Vorteile eingetragen. Anders als im Ersten Weltkrieg musste nicht an zwei Fronten gekämpft werden. Hitler und die gesamte Nazipropaganda hatten das als einen außerordentlichen Vorteil herausgestellt und damit Verwunderung, Bedenken und Einwände zurückgedrängt. Der »Führer« erschien als ein genialer Diplomat. So war der Handelsweg nach Osten offen gehalten. Auch das erfuhr eine entsprechende propagandistische Ausschlachtung mit Verweisen auf die Blockade Deutschlands im Ersten Weltkrieg mit ihren Folgen, den hungernden Frauen und Kindern. Jede Wiederholung schien mithin ausgeschlossen und somit ein ganz anderer Krieg zu beginnen als derjenige, der 25 Jahre vorher begonnen hatte.

Nun, auf der Schwelle zum Sommer 1941 musste der erneute Bruch erklärt und gerechtfertigt werden. Dazu erzählte den Deutschen der »Führer« selbst die Geschichte seiner Leiden, entstanden aus seinem Vorwissen der sowjetischen Angriffsabsicht, von dem er sich befreit durch die Erkenntnis hatte, dass dem Krieg gegen den »hinterhältigen« Bolschewismus nicht auszuweichen sei. Und da habe er sich doch besser entschlossen, dem sprungbereiten Angreifer zuvorzukommen. Wie viele Deutsche diese Mär geglaubt haben, ist nicht aufzuklären. Zudem stellten Hitler und seine Demagogen die angebliche Bedrohung durch das Reich im Osten als das bisher existierende Hindernis dar, das die Entfaltung aller militärischen Kräfte gegen Großbritannien und den »Endsieg« verhinderte. So erschien den Propagandagläubigen der Feldzug im Osten als »Zwischenstadium« des großen Kampfes gegen England.

Wer allerdings einen Mann, Sohn oder Bruder mit dem Marschbefehl Moskau auf dem Wege wusste, bangte um dessen Gesundheit und Leben, denn erwartet wurde, dass die eigenen Verluste größer sein würden als die im Westfeldzug erlittenen. Doch verband sich mit Ängsten und Befürchtungen weithin die Hoffnung, dass auch dieser Feldzug kurz sein werde. Die Wehrmacht hatte sich in jedem voraufgegangenen als unüberwindlich erwiesen. Am Sieg wurde folglich nicht gezweifelt. In der Tat folgte darauf bald eine gewisse Ausnüchterung, die erste in einer ganzen Reihe. Aus von Angehörigen der Propaganda-Kompanien verfassten Berichten, die der Rundfunk täglich sendete, ließ sich entnehmen, dass sich die sowjetischen Soldaten zäh verteidigten. Sodann begannen die faschistischen Enthusiasten des Kriegsgeschehens einen Blick auf geographische Karten der UdSSR zu werfen. Solchen Kartenwerken ließ sich unschwer ablesen, wie weit es nach Moskau, an die Wolga, zum Ural und Kaukasus war. Doch verband sich der Weg dahin für die Siegverwöhnten mit der Vorstellung, dass die sowjetische Armee nach einigen Kesselschlachten vernichtet sein und das weitere sich als Besetzung der riesigen Räume abspielen werde. Auch Angaben über die Zahl der gefangenen Rotarmisten und Filmstreifen, die abgehetzte, erschöpfte, abgerissene Gefangene zeigten, erweckten oder bestärkten den Eindruck, dass dieser Gegner im Grunde nicht ernst zu nehmen sei. In dieses Tableau mischten sich jedoch auch besorgte Fragen. Eine betraf die nun veränderte Ernährungslage, im Sommer 1941 herrschte im Reich ein akuter Mangel an Kartoffeln und Gemüse. Mit dem Gedanken an die Opfer verband sich, verstärkt durch die Vorstellung von den »asiatischen Methoden« des Gegners die Frage nach dem Schicksal von Soldaten, die in die Hände der Sowjetarmee gerieten. Der Krieg gegen die UdSSR war noch keinen Monat alt, als viele »Volksgenossen« bedachten, dass die Zeit wie im Ersten Weltkrieg für die Gegenseite arbeiten könnte. Zweifel knüpften sich ebenso früh an die Frage, wie es im Osten möglich sein werde, die endlos weiten Räume zu beherrschen.

Allerdings hofften die Parteigänger des Regimes darauf, dass sich mit der Eroberung der Ukraine die Ernährungssituation im Reich erheblich verbessern werde. Der nationale Egoismus feierte Triumphe. Was »den Anderen« zugefügt wurde, war dem Denken und Fühlen der Deutschen weitgehend entrückt. Das hatte sich schon an der Hinnahme der Bombardements auf britische und weitere Städte in Europa gezeigt. An diesem 22. Juni 1941 gingen die Deutschen, die bis dahin von den Entbehrungen des Krieges wenig gemerkt hatten, weithin ahnungslos. An jenem Tag, es war ein Sonntag, fand Victor Klemperer bei einem Weg in Dresden »Volksvergnügtheit« und stieß, an einem Lokal vorbeikommend, auf tanzende Menschen.

Ein paar Kleingruppen von Deutschen knüpften an diese erneute Wende des Kriegsgeschehens jedoch andere Hoffnungen. Das waren die politischen Gefangenen in den Konzentrationslagern und Zuchthäusern, die im Untergrund arbeitenden Nazigegner, die ins Exil Getriebenen und die von immer einschneidenderen Drangsalierungen getroffenen deutschen Juden. Nicht wenige von ihnen hofften freilich auf einen anderen Kriegsverlauf. Wie die deutschen imperialistischen Eroberer die Kräfte der Sowjetunion weit unterschätzten, so überschätzten manche von ihnen die militärische Antwort weit, die das Land augenblicklich den Eindringlingen zu geben vermochte.

Und dann waren da noch jene deutschen Antifaschisten, Kommunisten vor allem, die den Tag des Überfalls in der UdSSR erlebten. Er befreite sie von jenen Verbiegungen und Unterwerfungen, die ihnen der von Stalin bestimmte Kurs seit dem August und September 1939 aufgezwungen hatte. Sie ergaben sich nicht aus der Tatsache des Nichtangriffspaktes, nicht daraus, dass das Land aus dem Krieg herausgehalten werden sollte und dies seinen Preis hatte. Doch war in diesem Zusammenhang von Stalin den Kommunisten eine ideologisch-politische Kehrtwende aufgezwungen und ein Zwangskorsett verordnet worden. Sich über die soliden und treffenden Einschätzungen der Kommunistischen Internationale über die aggressiven und nichtaggressiven kapitalistischen Staaten, unter anderem in einer denkwürdigen Rede vorgetragen von Palmiro Togliatti 1935 auf dem Weltkongress, hinwegsetzend, legte der »große Führer« nach dem Polenfeldzug fest, dass nicht Nazideutschland, sondern Großbritannien und Frankreich die Schuld an der Weiterführung des Krieges trügen. Genau das hatten auch Hitler und seine Demagogen, Friedensbereitschaft heuchelnd, im Oktober 1939 behauptet.

Diese Version war nach dem Einfall der Wehrmacht selbstredend vollständig erledigt. Sie wurde in Vergessenheit gebracht und blieb dort noch Jahrzehnte nach Stalins Tod. Großbritannien und die Sowjetunion wurden 1941 Kriegsverbündete infolge eines Entschlusses, den Hitler gefasst hatte. Noch am Abend des 22. Juni hat Winston Churchill dazu die Hand nach Moskau ausgestreckt. Die deutschen Nazigegner in der UdSSR konnten, so viel sie dafür getan hatten, den Krieg im Ganzen und insbesondere diesen zu vermeiden, gleichsam aufatmen. Nicht alle für sehr lange. Vielen, solche eingeschlossen, die fähig und bereit waren, die Eindringlinge mit der Waffe zu bekämpfen und sich so den Rückweg in ihre Heimat mit freizumachen, stand die Deportation bevor.