Fast ein Lexikon

geschrieben von Alfred Fleischhacker

5. September 2013

Sammelband mit Zeugnissen über das jüdische Brandenburg

Juli-Aug. 2008

Irene A. Diekmann (Hg.)

Jüdisches Brandenburg. Geschichte und Gegenwart, Verlag für Berlin-Brandenburg, Potsdam 2008, ca. 700 Seiten, ca. 300 s/w-Abbildungen, Hardcover, 29,95 Euro

Wer sich für jüdisches Leben in Brandenburg interessiert, kann neuerdings getrost auf Google verzichten. 28 Autorinnen und Autoren haben auf mehr als 700 Seiten das Ergebnis ihrer Recherchen publiziert. Im Auftrag des Moses Mendelsohn Zentrums für europäische jüdische Studien liegt das im Verlag Berlin-Brandenburg erschienene, im Wortsinn gewichtige Buch es bringt immerhin 1,6 kg auf die Waage jetzt vor. Herausgeberin ist Irene A. Diekmann.

Gegliedert in 13 Ortskapitel, beginnend in Beelitz und endend in Rathenow, wird beschrieben, wie sich das Leben der Juden entwickelte. Da erfährt man zum Beispiel über Guben, dass hier der weltliche Herrscher Rudolf I. am 13. Oktober 1319 die rechtliche Gleichstellung von Juden mit anderen Stadtbürgern per Urkunde verfügte. Es irrt jedoch wer glaubt, so sei es überall und vor allem permanent gewesen. Vielmehr gab es im Umgang mit der jüdischen Minderheit über die Jahrhunderte ein ständiges Auf und Ab. Pogrome, Ausgrenzungen, institutionelle und physische Gewalt gehörten zum immer wieder eingesetzten Instrumentarium der Mächtigen.

Doch auch die Mitglieder der Jüdischen Gemeinden brachten das wirtschaftliche Leben in Brandenburg mit voran. Wer weiß schon, dass das in aller Welt wegen seiner Weichheit geschätzte Nappaleder einem jüdischen Erfinder zu verdanken ist? 1832 gründete Hermann Meyer in Guben eine Lederfabrik. Einer seiner Nachfahren entwickelte die neue Technologie zur Veredelung des Produkts. Der Familienbetrieb wuchs zu einem angesehenen mittelständischen Unternehmen, bis die Nazis es nach der Pogromnacht 1938 liquidierten.

In ungefähr einem Dutzend Essays werden allgemeine Aspekte des Zusammenlebens von Juden und Angehörigen anderer Religionen untersucht. Etwa der lange Weg des 14-jährigen Knaben Moses Mendelssohn nach Berlin. Der brach im Herbst 1743 in Dessau auf. Um zu seinem Bestimmungsort zu gelangen, musste er mehrere Male brandenburgische Besiedelungen durchqueren. Überall gab es Stadttore, Sperren und Zölle, die vor allem von Juden eingefordert wurden. Der junge Wanderbursche aus Dessau war auf die Hilfe seiner Glaubensbrüder angewiesen. Von denen gehörten etwa die Hälfte zu den Armen, ebenso viele zu den Bessergestellten, nur drei Prozent waren wirklich wohlhabend. Aus dem Knaben Moses Mendelsohn wurde in der Tat ein ganz Reicher: An Geist und Wissen, in der maßgeblich von ihm mitgeprägten Epoche der Aufklärung.

Natürlich hat Kurt Tucholskys Aufenthalt mit seiner späteren ersten Ehefrau Else Weil in Rheinsberg auch Eingang in das Buch gefunden.

Kritisch hinterfragt wird auch die ambivalente Haltung der urmärkischen Dichters Theodor Fontane zum Judentum. 1855 wünschte dieser ein Aufgehen der Juden im Deutschtum. Ihr Übertritt zum Christentum sei dafür die Voraussetzung. Doch zugleich warnte er vor anti-jüdischer Radikalisierung in der Gesellschaft, falls der Prozess der »Amalgamierung« nicht glücken würde. Leider haben sich die meisten Brandenburger, als die Nazis die Macht übernahmen und die Juden innerhalb weniger Jahre für vogelfrei erklärt wurden, nicht mehr an die warnenden Worte ihres Dichterfürsten erinnern wollen.

Nach Redaktionsschluss wurde das Ergebnis einer Vergleichsstudie über antisemitische Gewalt bekannt. Im Auftrag des Moses-Mendelsohn-Zentrums wurde sie in zwölf europäischen Ländern durchgeführt. Danach haben ein Fünftel der Europäer antisemitische, beziehungsweise antijüdische Vorurteile. Im Kopf von 39 Prozent der Italiener ist gespeichert, dass Juden eine besondere Beziehung zu Geld hätten …

1945/46 als die Mark, wie das ganze Land, ein großer Trümmerhaufen war, gab es in Brandenburg nur noch einige Hundert Juden. Erst zu Beginn der 90er-Jahre des letzten Jahrhunderts begann eine neue Ära. Etwa 7.500 sogenannte Kontingentsflüchtlinge jüdischer Herkunft aus der ehemaligen UdSSR ließen sich in Brandenburg nieder. Nach neuesten Schätzungen hat etwa die Hälfte von ihnen dort eine neue Heimat gefunden. Ein nicht immer reibungsloser, aber hoffnungsvoller Neuaufbau jüdischen Lebens ist in Gang gekommen.

Wer wissen möchte, wie Jüdisches Leben sich über Tausend Jahre in Brandenburg entwickelte, findet in dem Band mit Sicherheit unzählige Anregungen.