Heimliche Faszination

geschrieben von Detlef Kannapin

5. September 2013

»Jud Süß – Film ohne Gewissen« von Oskar
Roehler

März-April 2010

Jud Süß – Film ohne Gewissen

Regie: Oskar Roehler

Drehbuch: Klaus Richter, Oskar Roehler, Franz Novotny

Darsteller: Tobias Moretti, Martina Gedeck, Moritz Bleibtreu, Armin Rohde, Justus von Dohnanyi, Paula Kalenberg, Ralf Bauer, Robert Stadlober, Heribert Sasse, Martin Butzke, Milan Peschel, Erika Maroszán

Der Faschismus, namentlich der deutsche, war bekanntlich die zeitweise, staatlich sanktionierte Übergabe der Regierungsgewalt aus den Händen der Bourgeoisie in die Hände des Kleinbürgertums. Zur Entschlüsselung der Herrschaftsstruktur des Faschismus ist es allerdings immer noch zwingend notwendig, die imperialistischen Produktionsverhältnisse kennenzulernen, die zum Zweiten Weltkrieg, zu Auschwitz und zur Verhinderung des Sozialismus im Weltmaßstab geführt haben.

Soweit – so mühselig. Wenn man das nicht will, verlegt man sich auf Nebenschauplätze, bläst diese bis zur Monstrosität auf und spielt die Platte der Unerklärbarkeit ab. Wie weit die deutsche Gesellschaft damit im Jahre 2010 erneut vorangekommen ist, beweist einmal mehr ein Film. Schließlich ist der Film, dem Diktum Siegfried Kracauers folgend, nach wie vor ein »Spiegel der bestehenden Gesellschaft«. Und in schöner, oder besser brutaler Zementierung des Grundsatzes, wer worüber nicht reden will, sollte auch darüber schweigen, präsentiert uns die Filmkultur des Landes in beinahe karnevalistischer Regelmäßigkeit, was das Verschweigen systematischer historischer Zusammenhänge mit der Gegenwart zu tun hat und warum diverse Produkte filmischer Unmittelbarkeit auf diejenigen taghell scheinen, die der Meinung sind, beim Dabeigewesensein von »Erdballgegnern« (Peter Hacks) unbedingt eine Kamera draufhalten zu müssen.

Der österreichische Schauspieler Ferdinand Marian (1902-1946) wurde 1939/40 mit der Titelrolle des Veit-Harlan-Großfilms »Jud Süß« betraut. Er lehnte nicht ab, rang aber mit sich vor, während und nach den Dreharbeiten, sah offenbar nicht oder zu spät, worauf er sich da einließ und zerbrach. Immerhin handelte es sich bei dem Film um die Legitimation der Vernichtung der europäischen Juden im Zweiten Weltkrieg durch Deutschland in historischem Kostüm.

Im Jahre 2000 notierte der Filmhistoriker Friedrich Knilli sehr einfühlsam-kumpelhaft die Geschichte von »Ferdl« Marian, alias »Jud Süß Oppenheimer«, und sprach ihn von fast jeglicher Schuld frei. Knillis Buch inspirierte, warum auch immer, den Filmregisseur Oskar Roehler zur Filmnotierung des Schicksals von Marian. Kaum erstaunlich, dass nun auch jener Film »Jud Süß – Film ohne Gewissen«, immerhin eben noch im Wettbewerb der 60. Berlinale, uns das ewig junge Märchen des getriebenen Nur-Schauspielers in den Klauen finsterer Mächte auftischt.

Das Ganze wäre wirklich nicht der Rede wert, stünde da nicht die Frage im Raum, warum so ein Film heute gedreht werden muss, warum er so gedreht werden muss, wie er gedreht wurde und was uns das alles für die Jetztzeit sagt.

Der geschichtliche Ablauf der Entstehung und Aufführung von »Jud Süß« ist im Wesentlichen korrekt dargestellt. Die Attitüde des Dabeiseins macht aber aus dem Film auf der beschreibenden Ebene ein Machwerk, das in einigen Momenten selbst den unsäglichen Film »Der Untergang« von 2004 toppt. Die unreflektierte Wiedergabe von nachgestellten und originalen Szenen aus dem Harlan-Film verrät eine heimliche Faszination am Lynchen, Gräueln und Brennen, die pädagogisch billig, wenigstens jedoch wohlmeinend einfach durch die Einblendung von Leichenbergen aus den befreiten Vernichtungslagern hätte gebrochen werden können. Da dies unterbleibt, erweist sich einmal mehr nach Georg Seeßlen das faschistische Bild als dominant gegenüber dem Bild vom Faschismus.

»Jud Süß – Film ohne Gewissen« ist Ausdruck und Spiegel zugleich in der Vorstellung des Kleinbürgertums von seiner eigenen Herrschaft. Man möchte ihn als obligatorischen Anschauungsunterricht ex negativo für die Jahrgänge der mittleren Reife in der Schule anpreisen. Begründung: In diesem Film kann man erstens sehen, wie das Kleinbürgertum sich sein Bild vom Faschismus schafft, das hier nur noch um den selbstzerstörerischen Mikrokosmos des Egomanentums kreist, welches zwangsläufige Opfer als »Abrieb« für ein »endlich anständiges Leben« einstuft. Zweitens ist erkennbar, dass das Wesen des Kleinbürgertums in der Verkörperung eines strukturell notwendigen Anhängsels des Kapitals besteht. Wenn es das Kleinbürgertum nicht geben würde, hätten es die Kapitalbesitzer erfinden müssen – zwecks Ausführung der Drecksarbeit, Vortäuschung falscher Tatsachen, Verwechslung von gesellschaftlichen Ansprüchen mit Individualinteressen sowie der geräumigen Ausblendung historischer Kontexte.

Mit George Grosz gesprochen: Da sind Leute am Werk, die an keine Zukunft glauben und sie dennoch bestimmen wollen. Somit ist dann auch der Übergang zur Gegenwart erreicht. Wer einen derartigen Film so dreht, ist zum einen mit dem unumstößlichen Bewusstsein von der Ewigkeit des Kapitals ausgestattet, das uns »Gewissenlosigkeit« als Archetypus menschlicher Verhaltensweisen verkauft, weswegen Faschismus immer möglich ist. Zum anderen verraten die Filmemacher mit ihrer Sichtweise unfreiwillig die Kontinuität einer Gesellschaftsformation, die sich mittlerweile als so verantwortungslos erwiesen hat, dass es schier unmöglich ist, sie zu verteidigen.