Jeder Name zählt

geschrieben von Ulrich Schneider

8. August 2020

Digitales Archiv der Deportation lädt zur Mitarbeit ein

Das älteste Archiv zur Geschichte der faschistischen Deportation und des Lagersystems befindet sich seit vielen Jahrzehnten im nordhessischen Bad Arolsen. Es handelt sich um das Archiv des früheren Internationalen Suchdienstes (International Tracing Service – ITS). Diese 1948 gegründete Einrichtung wurde im Auftrag der Siegermächte von der Bundesrepublik Deutschland organisiert und diente in den ersten Jahrzehnten der Aufklärung von Verfolgungs- und Haftschicksalen. Insbesondere für die Anerkennung von Haftzeiten in Konzentrationslagern im Rahmen der Entschädigung oder den Nachweis des Todes von Angehörigen waren die dort gesammelten Unterlagen aus den befreiten Konzentrationslagern von großer Bedeutung.

Mit Beginn der gesellschaftlichen Aufarbeitung des faschistischen Terrorsystems wurde der Suchdienst immer wieder auch von Historikern angefragt, was jedoch seit Beginn der 80er Jahre zunehmend schwieriger wurde. Es bedurfte politischer Aktionen der Verfolgtenverbände aus Frankreich, Belgien, den Niederlanden, der VVN-BdA und der FIR, bis es gelang, ein Umdenken und eine Öffnung der Bestände für historische Forschung zu erreichen.

Nach mehreren Jahren intensiver Arbeit ist die wohl größte Sammlung zu Deportation und Verfolgung im NS-Regime nun im Internet einsehbar. Die Sammlung des früheren Opfer-Suchdienstes ITS gehört zum UNESCO-Weltdokumentenerbe. Die historischen Bestände der Arolsen Archives stehen seit April 2020 fast vollständig online. Sie umfassen Originaldokumente und Kopien über Millionen von Zwangsarbeitern sowie Transport- und Deportationslisten über Millionen Menschen, die in Konzentrationslager und Ghettos verschleppt wurden. Nun können Interessierte weltweit fortan über das Onlinearchiv auf 26 Millionen Dokumente mit Informationen zu 21 Millionen Namen von Verfolgten zugreifen.

Damit sei man dem Ziel, den Opfern des NS-Regimes ein digitales Denkmal zu setzen, einen großen Schritt nähergekommen, heißt es in der Mitteilung von Arolsen Archives. Dies sei auch Partnern wie der Internationalen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Israel zu verdanken. Diese habe riesige Sammlungen wie die Zwangsarbeiterkartei ins Onlinearchiv eingebracht.

Crowdsourcing-Aktion

Zur Erleichterung der digitalen Recherche ruft das Archiv nun zu einer besonderen Form der Unterstützung auf, der Crowdsourcing-Aktion »Jeder Name zählt«. Alle Interessierten sind eingeladen, Namen aus Deportations- und KZ-Listen für die Datenbank des Archivs zu erfassen, um die Schicksale dieser Menschen vor dem Vergessen zu bewahren. Das Projekt eröffne die Möglichkeit, an einem Wissensspeicher kollektiven Erinnerns mitzuwirken, so das Archiv. Bereits Anfang 2020 startete das Projekt »Jeder Name zählt« mit rund 1.000 Schülerinnen und Schülern in Hessen. Die Konfrontation mit den Originaldokumenten zu Namen, Alter und Wohnorten der Opfer war für die Schülerinnen und Schüler ein ungewohnt direkter Zugang zu den Verbrechen des NS-Regimes. Für einen Tag wurden die Dokumente des Archivs für sie lebendig. Die Schülerinnen und Schüler waren begeistert, an einem großen gemeinsamen Projekt gegen das Vergessen oder gar das Leugnen der deutschen Vergangenheit mitzuwirken. Das hat die Verantwortlichen ermuntert, nun ein offenes Angebot für alle zu schaffen, die sich derzeit von Zuhause aus für eine gesellschaftliche Aufgabe engagieren wollen. Man sehe darin die Möglichkeit einer neuen Form der Gedenkkultur 
in einer Zeit von Kontaktsperren und sozialer Distanzierung, betonte Floriane Azoulay, Direktorin der Arolsen Archives.

Vor wenigen Wochen erhielten die Arolsen Archives eine große Anerkennung, nämlich den Europäischen Kulturerbe-Preis / Europa Nostra Awards 2020 in der Kategorie Bildung, Ausbildung und Bewusstseinsbildung: »Die international anerkannten Arolsen Archives sind von enormer Bedeutung. Die Fülle an Dokumenten trägt zum globalen Wissen der Opfer und Überlebenden der nationalsozialistischen Verfolgung bei und macht die Verbrechen transparent. Der Erfolg dieses Aufklärungsprojekts besteht darin, rund 30 Millionen Dokumente zu digitalisieren und Open Access zu ermöglichen. Die Zusammenarbeit mit anderen Institutionen auf der ganzen Welt hat die Datenbank weiter bereichert. Das Metadaten-Vokabular ermöglicht es Benutzern, diese immense Menge an Informationen einfach zu durchsuchen und die Dialogoberfläche erleichtert die Interaktion zwischen Benutzern«, erklärte die Jury.

 

www.arolsen-archives.org