Versuch eines Überblicks

31. Mai 2021

Interview mit dem Rechercheprojekt »Entnazifizierung jetzt«

antifa: Unter dem Motto »75 Jahre sind nicht genug – Entnazifizierung jetzt« fanden am 8. Mai 2020 bundesweit Aktionen gegen Neonazis in staatlichen Institutionen statt. Im Aufruf stand: »Mit der Entnazifizierung ist es wie mit dem Aufräumen: Es ist nie erledigt, und man muss immer wieder von vorne beginnen.« In welcher Phase dieses »Aufräumens« sind wir gerade – vor dem 76. Jahrestag der Befreiung?

Jan Richter: Angelehnt an Marie Kondo (Netflix-Star) könnte man sagen, der Schrank ist nicht einmal leer geräumt worden, um sich einen Überblick zu verschaffen, geschweige denn etwas aussortiert und das Brauchbare wieder eingeräumt worden. Aber im Ernst, dass es in Deutschland je eine Entnazifizierung gab, die ihren Namen verdient, daran glaubt keine:r mehr. Im Gegenteil, in den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts, sind in der Bundesrepublik alte Nazis in die neu geschaffenen Behörden gehievt worden. Diese alten Nazis wurden wir erst los, als sie in den Ruhestand gingen. Nicht aber ihr ideologisches Erbe, das durch Corpsgeist und gewollte Unkontrollierbarkeit der Sicherheitsbehörden weiterwirken kann.  

antifa: Ihr habt vor einem Jahr euer Rechercheprojekt gestartet, um zu beweisen, dass all die extrem rechten Vorfälle in Sicherheitsbehörden auf strukturelle Defizite zurückzuführen sind. Was kam heraus?

entnazifizierungJetzt.de #EntnazifizierungJetzt

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Jan Richter: Mit unserer Recherche können wir sagen: Es handelt sich nicht um Einzelfälle. Dabei rede ich nicht nur von den offensichtlichen Netzwerken, wie »Hannibal« oder die »Gruppe S.«, die einen faschistischen Putsch vorbereiteten und in denen Mitglieder der Sicherheitsbehörden führende Rollen innehatten. Wir haben festgestellt: Es handelt sich um ein subtiles System, wo alles ineinandergreift. Da gibt es kriminelle Handlungen, wie Bedrohungen von Linken, oder Nazipropaganda in Chatgruppen. Aber auch rechte Normalität von Racial Profiling, Verhinderung der Aufklärung von Naziangriffen, brutales Vorgehen gegen Antifas und Hofieren von Nazis auf ihren Demos, Datenabfragen zu unliebsamen Demokrat:innen usw. Das ist Alltag in Behörden. Anders lassen sich die vielen dokumentierten Fälle nicht erklären.

antifa: Nach den rassistischen Morden in Hanau konstatierte Margarete Stokowski im Spiegel: »Deutschland hat seine vollständige Entnazifizierung gründlich prokrastiniert« und fordert, diese nun nachzuholen – in vielen kleinen Schritten. Wie weit ist es damit?

Jan Richter: Na ja, Menschen die prokrastinieren, wollen ja eigentlich ihre Sachen machen, bekommen es aber nicht hin. In Deutschland wollte aber die gesellschaftliche Mehrheit nie eine Entnazifizierung. Wir sehen unsere politische Arbeit als einen solchen Schritt zur Entnazifizierung an. Wir dokumentieren, decken Zusammenhänge auf und machen Vorschläge. Journalist:innen und Antifas recherchieren zu Netzwerken, andere initiieren Tribunale oder machen Druck in den Parlamenten. Die Aufklärungsarbeit, die stattfindet, ist vor allem eine antifaschistische und antirassistische Initiative. Vom Staat kommen nur Deckelung, Verschleierung und Verschleppung von Aufklärung.

antifa: Sammeln und veröffentlichen – wie geht ihr konkret vor?

Jan Richter: Wir haben vor einem Jahr zu einer Crowdrecherche aufgerufen. Seitdem bekommen wir aus der gesamten BRD Informationen zu Skandalen und rechten Tendenzen oder Vorfällen in den Sicherheitsbehörden. Oder die Leute markieren diese Skandale bei Twitter mit unserem Hashtag. Wir ordnen das nach Schlagwörtern und tragen sie in eine Übersichtskarte ein. Und wir haben einen beeindruckende Zeitleiste, wo schon die schiere Menge überzeugt.

antifa: Die eingängige Forderung ist »Nazis raus aus den Sicherheitsbehörden!« Mit eurer Sammlung wollt ihr zu Diskussionen anregen. Gibt es Reaktionen, wie die Forderung umgesetzt werden könnte?

Jan Richter: Was wir brauchen, ist ein gemeinsames Vorgehen. Mit dem bundesweiten Aktionstag am 8. Mai 2021 wird versucht, die Wut auf die Straße zu bringen. Mit dabei sind von Polizeigewalt betroffene BiPoCs (Black, Indigenous, People of Color), kriminalisierte Antifas, Obdachlose, Initiativen zur Aufklärung rassistischer Morde und von Abschiebung bedrohte Menschen. Wir befinden uns im Moment in einer Diskussion zu Forderungen und deren Umsetzung. Fakt ist, nach dem 8. Mai wollen wir gemeinsam weitermachen. Das geht nur mit den Betroffenen zusammen.

antifa: Dass sich Neonazis in den Sicherheitsorganen tummeln, ist kein Zufall. Autoritäre Gesellschaftsmodelle brauchen die bewaffneten Organe zur Durchsetzung ihrer Ziele. Welchen Zusammenhang seht ihr darin, dass zwei wichtige Elemente der Entnazifizierung, nämlich die Demokratisierung und Demilitarisierung des Staates, nie ernsthaft betrieben wurden?

Jan Richter: Die alten Nazis in den Behörden, die unter anderem Politik und Rechtsprechung betrieben haben, haben dafür gesorgt, diese Strukturen zu festigen und konkret die Demilitarisierung und Demokratisierung zu verhindern. Auch verschwinden die gesellschaftlichen Wünsche nach autoritärem Politikstil nicht einfach so, und gerade in Deutschland herrscht eine gewisse Autoritätshörigkeit.

 Um mal ein Beispiel von vielen zu nennen: Der Dresdner Gefängnisaufseher Daniel Zabel verprügelte nichtweiße Gefangene, einige seiner Kollegen machten mit, andere deckten ihn und hielten den Mund. Damit jedoch nicht genug: Er steckte der Bild Informationen zu einem Haftbefehl. Damit heizte er die rassistischen Pogrome in Chemnitz 2018 an. Heute darf er sich für die AfD in Sachsen zur Wahl stellen und wird von der Justiz für seine Straftaten äußerst milde behandelt. So etwas zu beenden, das meinen wir mit Entnazifizierung Der 8. Mai ist auch in diesem Jahr bundesweiter Aktionstag gegen rassistische Polizeigewalt und Neonazis in den »Sicherheitsbehörden«. Der Aufruf dazu findet sich auf den Berlin-Seiten der Länderbeilage